Radek Tünde - Szilágyi-Kósa Anikó (szerk.): Wandel durch Migration - A Veszprém Megyei Levéltár kiadványai 39. (Veszprém, 2016)

4. Folgen von Migrationsprozessen auf die Literatur - Hammer Erika: Ein Entwurf von der Welt. Bewegung als Ver-Wandlung der Welt in der Poetik von Herta Müller

Hammer, Erika: Ein Entwurf von der Welt 255 rie der Verfremdung (vgl. 1984b: 282). Man spricht auch davon, dass man die Dinge erwecken müsse (vgl. hier Lachmann 1984: 321) um sie wieder lebendig zu machen, aus der Starre herauszuholen. Bei beiden Annäherungen geht es um eine ästhetische Aneignung der Realität, und ich möchte im Folgenden Herta Müller in dieser Tradition verorten und dadurch auf Verfremdungstechniken in ihrer Poetik hinweisen. Es gilt als Konsens in der Forschung im Zusammenhang mit Müller von einem fremden, eigensinnigen Blick, von selbstgesetzter Wahrnehmung oder auch von grenzüberschreitendem Sehen zu sprechen (vgl. Bozzi 2005, vgl. auch Brandt 2010). Auch ich stelle mich in diese Reihe, versuche im Einzelnen zu zeigen, wie dies mit Hilfe von Verfremdungstechniken funktionieren kann. Sklovskij spricht im Zusammenhang mit Verfremdung - ,Ostranenie‘ nach seinem Ausdruck - von einem „Seltsammachen der Dinge“ (vgl. Lachmann 1984: 336) und Müller will, um dem Betrug der Dinge zu entkommen, dieses Seltsammachen durch ein Ensemble von Gestaltungstechniken praktizieren. Besonderen Akzent bekommen soll in meinen Ausführungen die Verfremdung als ästhetische Kategorie mit ihrer die Wirklichkeit entstellenden Wahrnehmung und der Verrückung aller Zusammenhänge verbunden mit der Diskreditierung der Automatismen der Sprache und ihres Gebrauchs. Die Grundlage der Verfremdung ist die „philosophische Forderung die Wirklichkeit richtig zu sehen, anders, als es die Gewohnheit eingibt“ (Helmers 1984a: 2), und man bringt durch ein solches Verfahren die festgefahrenen Dinge und Erfahrungsschemata in Bewegung. Wie in Derfremde Blick beschrieben wird, entsteht beim Ich dieser Wunsch in der Kindheit, denn das Fahrradfahren bringt eine veränderte Sichtweise mit sich, es verflüssigt die umgebende Welt (Müller 2009: 131). Diese Verflüssigung, die Auflösung und Verschiebung von Grenzen wird dann zum wichtigsten poetologischen Credo Müllers. Dies ist damit verbunden, dass alles, was unabänderlich zu sein scheint, weil es zu einer bestimmten Ordnung und Norm gehört, hinterfragt wird. In diesem Sinne wird eine Sprache verwendet, die die „Kontur des Wortes nicht braucht“ (Müller 2009: 83). Damit wird eine Verschiebung, Ver-Rückung der festgefahrenen heimeligen Ordnung angetrieben. Das prägnante Bild — als Pendant zur Verortung in etwas Bleibendem - ist bei Müller dafür sicher der Schleudersitz (Müller 2004: 143), der einem keine Ruhe zulässt, sondern einen in das Unbekannte hinauskatapul­tiert, wo es keine Besitztümer und wo es auch nichts Bekanntes gibt (vgl. Winter 2008, Küla 2007). Diese Entkoppelung und Loslösung bringt die Möglichkeit des Neuen, einer Wahrnehmung mit sich, die sich jenseits von Schemata bewe-

Next

/
Oldalképek
Tartalom