Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)

Die Unruhen des Sommers 1900 im Spiegel Österreichischer Berichte aus China

Georg Lehner - Monika Lehner In den Morgenstunden des 11. Juni begaben sich zahlreiche Europäer unter militärischer Bedeckung zur Bahnstation in Majiapu. Im Laufe der Nacht war nämlich das Gerücht verbreitet worden, dass die internationalen Entsatztruppen bereits dort eingetroffen wären. Der Bahnhof selbst wurde von Truppen des Prinzen Qing bewacht, entlang des Weges hatten die unter dem Kommando von Dong Fuxiang stehenden Gansu-Truppen Position bezogen, die schließlich am Nachmittag jenes Tages den Sekretär der japanischen Gesandtschaft Sugiyama Akira überfielen und ermordeten.172 Daraufhin hieß es, dass die Tore der Chinesenstadt1" geschlossen worden seien. Um die Lage besser beurtheilen zu können, ritten Rosthom und Winterhaider am Morgen des 12. Juni „bis zum äußeren Stadtthore“. Winterhaider schrieb in seinem Bericht: [...] wir fanden die Stadtthore offen, den Verkehr etwas weniger lebhaft als gewöhnlich, die Stimmung der Bevölkerung aufgeregt, was sich durch Nachrufen eines sha-sha! (erschlagt sie!) rufenden Mobs äußerte. Doch kehrten wir, ohne das Südthor der Chinesenstadt überschritten zu haben, nicht weiter molestiert in die Stadt zurück. Sir Robert Hart theilte abends mit, dass sich eine Abtheilung regulärer Reiter bereits außerhalb des Yungting-men [Yongdingmen] begeben hatte, um uns dort abzuschneiden, falls wir das Thor passieren sollten.174 Rosthom beschrieb die Situation wie folgt: Es war nahezu kein Verkehr in den Strassen und die an einzelnen Punkten angesammelten Müßiggänger zeigten eine entschieden feindselige Haltung. Auch erfuhren wir später, dass die Kansu[Gansu]-Soldaten sich bei unserem Herannahen außerhalb des Thores in Hinterhalt gelegt hatten, um uns zu überfallen. Wir kehrten jedoch innerhalb des Thores um und seither hat kein Europäer dieses Thor passirt.175 Wie sehr sich ihre Lage verschlechtert hatte, mag den diplomatischen Vertretern bewusst geworden sein, als ihnen am 12. Juni die jüngsten personellen HHStA, P.A. XXIX/14, Rosthom an Gotuchowski, Bericht No. 1 (11. Serie), Peking, 20.8.1900- Vgl. dazu Li u Fenghan (1978), S. 621. Siehe auch Fleming (1961), S. 85. Beijing hatte 16 Stadttore, neun zur sog. „Tartarenstadt“ (chines, nei cheng „Innere Stadt“ oder bei cheng „Nördliche Stadt“) und sieben zur sog. „Chinesenstadt“ (chines, wai cheng bzw. wailuo cheng Äußere Stadt“ bzw. „Umgebende Stadt“ oder nan cheng „Südliche Stadt“. Dazu sowie zu den gängigen Bezeichnungen der Stadttore vgl. Brunnert, Hagelström, S. 383 f. (No. 801 B und 802). - Zur räumlichen Struktur der Stadtteile von Beijing vgl. auch die Bemerkungen bei Evelyn S. Rawski, The Last Emperors. A Social History of Qing Imperial Institutions, Berke- ley/Los Angeles/London 1998, S. 24-36. KA, MS/OK 1900-X-14/5, fol. 384', Nr. 2 803, LSL Winterhaider über die Ereignisse in Peking, Taku, 11.10.1900. - Zu dieser Entwicklung, die der 12.6.1900 brachte, vgl. auch KA, MS/PK 1901- X11 -14/1, Abschrift des vom deutschen Oberst Graf Soden während der Belagerung der Gesandtschaften geführten Tagebuches [in Hinkunft: KA, Soden-TB (A)], S. 5: „Europäer werden aus der Stadt nicht mehr hinausgelassen. Durch das Eingangsthor der [deutschen] Gesandtschaft wurde ein chinesischer Brief geworfen, welcher eine Warnung vor den Boxern enthielt. Man scheint uns Angst machen zu wollen.“ HHStA, P.A. XXIX/14, Rosthom an Gotuchowski, Bericht No. 1 (II. Serie), Peking, 20.8.1900. Vgl. dazu auch Wolfgang Heinze, Die Belagerung der Pekinger Gesandtschaften. Eine völkerrechtliche Studie, Heidelberg 1901, S. 27 f. 72

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