Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)

Die Haltung der Mächte zu den Ereignissen in China im Spiegel der Berichte Österreichisch-Ungarischer Diplomaten

Georg Lehner - Monika Lehner Hengelmüller berichtete am 30. Juli, dass man in Washington in der Frage eines einheitlichen Oberkommandos über die in China gelandeten Truppen bislang noch keine Verhandlungen gepflogen habe. Flay war der Ansicht, dass das Oberkommando wie üblich dem rangältesten General zu übertragen sei und dass der das US-Kontingent in China kommandierende Generalmajor Adna Romanza Chaffee bereit sei, sich dem Oberkommando „eines japanischen oder irgend eines anderen im Range höheren Generals“ zu unterstellen.**' Der k. u. k. Geschäftsträger in London, Albert Graf Mensdorff, meinte am 2. August, dass die Verhandlungen über die Frage „doch sehr langsame Fortschritte zu machen“ schienen. Die Verantwortung für diese Stagnation wurde von den Vertretern Deutschlands und Russlands in London der britischen Politik zugesprochen. Hatzfeldt und sein russischer Kollege bemängelten vor allem, dass das Foreign Office in dieser Frage eine „ziemlich vague und unklare Sprache“ führe und dass Lord Salisbury kein übermäßiges Vertrauen „zu irgend einer Macht“ demonstriere. Der parlamentarische Unterstaatssekretär im Foreign Office, Brodrick, bedauerte Mensdorff gegenüber die äußerst reservierte Aufnahme der britischen Vorschläge in Berlin. Brodrick bedauerte dies, da ihm der deutsche Kaiser „dazu berufen“ erschien, „eine führende Rolle in der chinesischen Frage zu übernehmen.“ Diese Frage wäre ,ja zum grossen Theile“ durch die deutsche Besetzung von Jiaozhou „in’s Rollen gerathen [...], und Seine Majestät auch [...] in der letzten Zeit eine sehr energische Sprache geführt hätte.“ Im Foreign Office trat man auch deshalb für die „deutsche“ und gegen eine ,.russische“ Lösung der Frage des Oberkommandos ein, da das „Vorgehen der russischen Truppen gegen die eingeborene Bevölkerung [der Mandschurei]“ mit den humanitären Vorstellungen der britischen Öffentlichkeit nicht vereinbar wäre.881 882 Weitaus problemloser schien man diese Frage des Oberbefehls in St. Petersburg zu beurteilen. Der Verweser des russischen Außenministeriums, Vladimir Nikolaevic Lambsdorff, vertrat gegenüber dem k. u. k. Botschafter Freiherm von Aehrenthal noch am 1. August die Ansicht, dass die Einigung auf ein gemeinsames Oberkommando der kooperierenden Truppen nur an Ort und Stelle erfolgen könne.883 Vor allem von Sir Charles Scott, dem britischen Botschafter in St. Petersburg, wurde diese Entwicklung mit Sorge betrachtet. Scott hegte die Befürchtung, dass Lambsdorffs Idee, kein gemeinsames Oberkommando Papiere 1838-1901, ed. und eingel. von Gerhard Ebel in Verbindung mit Michael Behnen, Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 51, Boppard am Rhein 1976, Bd. 2. 881 HHStA, P.A. XXIX/19, Hengelmüller an Goluchowski, Bericht No. 19 B, Bar Harbor, 30.7.1900. 882 Ebenda, Mensdorff an Goluchowski, Bericht No. 44 A-F Vertraulich, London, 2.8.1900. - Zur Behandlung der Krise in China im britischen Parlament vgl. Bruce R. Pirnie, Das britische Parlament in der Außenpolitik 1892-1902, (phil. Diss.), Heidelberg 1972, S. 205 f. 883 HHStA, P.A. XXIX/19, Telegramm No. 62 (No. 1 520, Chiffre), Aehrenthal an MdÄ, Petersburg, 1.8.1900. Bereits Mitte Juli hatte Lambsdorff die Ansicht vertreten, die Entscheidung den Befehlshabern der Kontingente in Tianjin und Dagu selbst zu überlassen. Vgl. dazu HHStA, P.A. XX1X/18, Kinskÿ an MdÄ, Telegramm No. 55 (No. 9 417, Chiffre), Petersburg, 20.7.1900. 256

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