Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)

Die Haltung der Mächte zu den Ereignissen in China im Spiegel der Berichte Österreichisch-Ungarischer Diplomaten

einzusetzen, sondern die Koordination der Entscheidungen den kommandierenden Generälen in Tianjin zu überlassen, in erster Linie den russischen Intentionen förderlich sein könne.884 Brodrick gab Mensdorff zu verstehen, dass Russland gegen einen englischen Oberbefehlshaber wohl heftige Einwände Vorbringen würde und auch ein japanisches Oberkommando würde von den Russen nicht akzeptiert werden. Mensdorff bezweifelte jedoch, dass britische Truppen unter französischem Oberbefehl kämpfen würden. Der k. u. k. Geschäftsträger wies in seinem Bericht auch darauf hin, dass die Frage des Oberbefehls aufgrund der unentschlossenen Haltung Salisburys „überhaupt nicht zur Lösung gelangen“ dürfte. In diesem Fall müssten die von den einzelnen Mächten nach China entsandten Truppenkontingente ,jedes für sich und in einem losen Verbände zu einander operiren, was gewiss dem Erfolge nicht zu Statten kommen kann.“885 In einem weiteren Bericht vom 2. August beschrieb Mensdorff die Spannungen zwischen den an der internationalen Aktion in China „zunächst betheiligten Regierungen“ im Telegrammstil: Misstrauen England’s gegen Russland, Misstrauen Russland’s gegen England, Unzufriedenheit Deutschlands mit England und Eifersucht und Unfreundlichkeit England’s gegen Deutschland sind die Symptome, die, soweit ich die Lage unvorgreiflich überblicken kann, mir bemerkenswerth erscheinen.886 Trotz der intensiven Gespräche mit den Angehörigen der deutschen Gesandtschaft, die er als „sehr warme Anhänger eines engen Einvernehmens zwischen Deutschland und England“ bezeichnete, gelang es Mensdorff nicht, die eigentliche Ursache des diplomatischen Geplänkels zwischen Berlin und London zu ergründen. Auch Gespräche mit dem russischen Vertreter in London brachten keine Klarheit: Trotz seiner großen Erfahrung in England und seiner ungewöhnlichen Begabung ist mein russischer College, wie so mancher Diplomat seines Landes, so sehr in dem traditionellen Argwohne gegen das perfide Albion befangen, dass er in Allem und Jedem einen complicirten, lange vorbereiteten Schachzug der britischen Politik erblickt. Dagegen vertrat Mensdorff selbst die Ansicht, dass die internationalen Ereignisse der letzten Jahre das britische Kabinett „häufig gänzlich unvorbereitet überraschten“ und dass man in der britischen Außenpolitik kaum längerfristige Konzepte erkennen könne.887 Die Haltung der Mächte zu den Ereignissen in China ... 8 HHStA, P.A. XXIX/19, Aehrenthal an Gotuchowski, Bericht No. 47 A-B, St. Petersburg, 2.8.(20.7.)1900. Dieser Bericht des wenige Tage zuvor vom Urlaub nach St. Petersburg zurück­gekehrten k. u. k. Botschafters trug den Titel: „Meine ersten Eindrücke über die russische Politik in China und die Beziehungen zu den anderen Mächten.“ - Zum Festhalten Lambsdorffs an der Regelung des Oberbefehles durch die in China anwesenden militärischen Entscheidungsträger vgl. auch ebenda, Aehrenthal an Gotuchowski, Bericht No. 48 A-B, St. Petersburg, 3.8.(21.7.) 1900. 885 Ebenda, Mensdorff an Gotuchowski, Bericht No. 44 A-F Vertraulich, London, 2.8.1900. 886 Ebenda, Mensdorff an Gotuchowski, Bericht No. 44 B Vertraulich, London, 2.8.1900. 887 HHStA, P.A. XXIX/19, Mensdorff an Gotuchowski, Bericht No. 44 A-F Vertraulich, London, 2.8.1900. 257

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