Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)
Die Haltung der Mächte zu den Ereignissen in China im Spiegel der Berichte Österreichisch-Ungarischer Diplomaten
Szôgyény hatte nicht zuletzt aus den im Auswärtigen Amt eingeholten Informationen den Eindruck gewonnen, dass Russland selbst das Angebot des Oberkommandos erwarte. Es schien ihm jedoch ausgeschlossen, dass England seine Truppen unter russischen Oberbefehl stellen würde. Die eher ausweichenden Antworten, die er im Auswärtigen Amt auf seine Anfragen erhalten hatte, veranlassten Szôgyény zu einer nicht unbegründeten Vermutung: Ob bei dieser Auffassung in der Wilhelmstrasse nicht der stille Wunsch mitspricht, der Oberbefehl müsste, als einer der weniger betheiligten und daher weniger Eifersucht erregenden Mächte an Deutschland übertragen werden, muss ich dahingestellt sein lassen.877 Im Postskriptum berichtete Szôgyény über eine Unterredung mit Bülow, die erst nach Abfassung des Berichtes stattgefunden hatte. „Streng vertraulich“ teilte ihm Bülow mit, dass dem Kaiser und der deutschen Regierung nahe gelegt worden wäre, Deutschland möge sich um den Oberbefehl über die in China bereits gelandeten und noch zu landenden Truppen bewerben, „doch sei weder Seine Majestät noch er selbst gewillt, auf diesen Gedanken einzugehen.“ Insbesondere wäre es Kaiser Wilhelm, der seine Zustimmung hiezu nicht geben wolle. „Als Grund dafür nannte Bülow, dass der Kaiser seine Generäle „um keinen Preis“ den Schwierigkeiten aussetzen wolle, denen sie „auf dem ihnen völlig fremden Terrain in Ostasien“ zu begegnen hätten.878 Das erste authentische Lebenszeichen, das man in Berlin von den in Beijing Eingeschlossenen Ende Juli erhalten hatte, ließ die Frage des Oberbefehls in eine neue Phase treten. Der k. u. k. Geschäftsträger, Graf Thum, konstatierte dazu: „So überaus erfreulich auch diese Nachricht, falls sie sich in ihrem ganzen Umfange bewahrheitet, vom Standpunkte der Menschlichkeit ist“, so erschwere sich dadurch die Aufgabe, welcher die betheiligten Mächte gegenüberstehen, nach meiner Meinung, in ganz bedeutendem Maße, indem die Schwierigkeit ein vollkommen einvemehmliches und gleichmäßiges Vorgehen beizubehalten sich immer stärker fühlbar machen dürfte.879 Wie sehr Deutschland daran interessiert gewesen war, den gemeinsamen Oberbefehl zu erhalten, hatte Thum im Zuge einer Unterredung mit Sir Frank Lascelles, dem britischen Botschafter in Berlin, in Erfahrung bringen können. Lord Salisbury habe Lascelles anvertraut, dass Paul Graf Hatzfeldt, der deutsche Botschafter in London, im Aufträge der deutschen Regierung angeregt habe, „England möge aus seiner Reserve heraustreten und bei den betheiligten Mächten vorschlagen, den Oberbefehl in Ostasien an Deutschland zu übertragen.“880 Die Haltung der Mächte zu den Ereignissen in China ... HHStA, P.A. XXIX/18, Szôgyény an Gotuchowski, Bericht No. 31 A-B Vertraulich, Berlin, 21.7.1900. 878 Ebenda, Szôgyény an Gotuchowski, Postskriptum zu Bericht No. 31 A-B Vertraulich, Berlin, 21.7.1900. 879 HHStA, P.A. XXIX/19, Thum an Gotuchowski, Bericht No. 33 C Streng vertraulich, Berlin, 1.8.1900. 880 Ebenda, Thum an Gotuchowski, Bericht No. 33 C Streng vertraulich, Berlin, 1.8.1900. Zu Hatzfeldts Haltung gegenüber den Ereignissen in China vgl. Paul Graf Hatzfeld, Nachgelassene 255