Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)

Vorwort / Einleitung

Einleitung tungen den Erbstaaten Nachteile brachte. Diese wirtschaftlichen Folgen sind von allen Nachfolgeproblemen am besten durchleuchtet. Alice Teichova, selbst seit Jahrzehnten diesem Problemkreis zugewandt, kann nunmehr die Ergebnisse eines breit angelegten Forschungsprojektes und damit den aktuellen Forschungsstand zusammenfassen. Es zeigt sich, daß die Geschichtsschreibung von vielen lieb ge­wordenen, wenn auch nie ganz unumstrittenen Thesen Abschied nehmen muß. So wurden die Auswirkungen des Staatszerfalls auf die ökonomisch relevanten Bezie­hungen zwischen den Nachfolgestaaten häufig drastisch überzeichnet. Tatsächlich verlor Wien trotz Konkurrenz seiner Nachbarn, vor allem der Tschechoslowakei, nie ganz seine Rolle als Finanzzentrum des mittleren und unteren Donauraumes. Zwar schwächte beispielsweise die durch den Staatsvertrag von Saint Germain legitimierte Nostrifizierung „feindlichen“ Vermögens die Präsenz österreichischen Aktienkapitals in der tschechoslowakischen Industrie, doch blieb Wien weiterhin eine Schaltstelle der Finanzpolitik, bis die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise den Finanzplatz Wien erneut entscheidend degradierten. Daß österreichische Groß­banken auch zur Zwischenkriegszeit in den Nachfolgestaaten durch Kreditgewäh­rungen vielfach präsent waren, gehört zum gesicherten Forschungsstand der wirt­schaftsgeschichtlichen Schule von Eduard März. Die jüngsten Forschungen ergän­zen dieses Bild, indem sie den tatsächlichen Umfang dieses ausländischen Enga­gements der Banken auf maximal 20 bis 30 Prozent ihres gesamten Kreditvolu­mens begrenzen, während der weitaus überwiegende Teil der Kredite ohnehin an die österreichische Wirtschaft ging. So wirkte offenbar das ausländische Engage­ment weniger drastisch als bisher angenommen zu Fasten der österreichischen Wirtschaft. Was die Flandelspolitik anbelangt, so bestätigt Teichova den geringen österreichischen Handlungsspielraum angesichts der vielfältigen inneren und äuße­ren Bestimmungsfaktoren, wie innenpolitische Interessenskonflikte und die Kon­kurrenz der Großmächte um den Donauraum. Man mag sich jedoch fragen, ob die Handelspolitik der anderen Nachfolgestaaten trotz partiell günstigerer Startchancen grundsätzlich größeren Handlungsspielraum besaß und wenn ja, ob sie die Notwendigkeit bilateraler Wirtschaftskontakte im Donauraum erkannte. Tatsächlich schrumpfte in der Ara der Weltwirtschaftskrise der Warenaustausch zwischen den Nachfolgestaaten, und damit entstand jenes Vakuum, welches nach dem Rückzug westlichen Kapitals die deutsche Großraum­wirtschaft penetrierte. So gesehen nahm die wirtschaftliche Desintegration des Donauraumes zwar durch den Zerfall Österreich-Ungarns ihren Ausgang, sie war aber nicht minder eine Folge der ökonomischen und politischen Zwänge der Drei­ßigerjahre. Dabei sind auch wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen der beteilig­ten Kleinstaaten nicht zu leugnen. Einen speziellen Aspekt der wirtschaftlichen Nachkriegsordnung behandelt Zdenëk Jindra, indem er die Folgen der Verträge von Saint Germain und Versailles auf die österreichische und deutsche Rüstungsindu­strie anhand von zwei Fallbeispielen, den „Steyr-Werken“ und der Firma Krupp bespricht. Es ist bekannt, daß beide Verträge die Waffenfabrikation drastisch redu­5

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