Folia Theologica 11. (2000)

Peter Henrici: Die Enzyklika zum dritten Jahrtausend. Fides et ratio

12 P. HENRICI tion des Glaubens durch glaubensferne Philosophien zeigen ein ähnliches Janusgesicht. Janusgesichtig sind diese beiden Erscheinungen, weil sie nicht nur aus christlichen Wurzeln hervorgingen und ohne den steten Einfluss christlichen Gedankenguts überhaupt nie denkbar geworden wä­ren, und doch aber zu einer völligen Verkehrung und Parodie des Chri­stentums geführt haben. Der (nunmehr verblichene) Marxismus ist zwei­fellos das bekannteste Beispiel für diese Verschlingung zwischen christ­lich-jüdischer Herkunft und antichristlichem Ausgang; der noch nicht verblichene Nietzsche und seine Nachfolger könnten dafür ein noch auf­schlussreicheres Beispiel abgeben. Popularphilosophisch geistert die Verdrängung des Glaubens durch die Vernunft in Form von Aufklärungs­resten besonders in den Schulen immer noch herum. Die Enzyklika benennt diese Weltanschauungen mit dem etwas glo­balen und unbestimmten Ausdruck „Nihilismus”, ohne näher auf sie ein­zugehen. Polemik ist denn auch nicht die Aufgabe, die sich das Rund­schreiben gesetzt hat - sehr zum Ärger sensationshungriger Kommenta­toren. Der Papst liest die Entwicklung der letzten hundert oder zweihun­dert Jahre vielmehr aus der Perspektive des Lehramts - und damit kom­men wir zum vierten und vorletzten Akt unseres Dramas. IV. Der vierte Akt beinhaltet im Sinne der klassischen Dramentheorie, eine Verzögerung, eine „Retardation”. In der frühen Neuzeit ist die gei­stige Führungsrolle an die genannten neuen Formen der Vernunft und an die „nachchristlichen” Philosophien übergegangen. Der christliche Glau­be und das kirchliche Lehramt (bzw. die Theologie) konnten darum in der späteren Neuzeit nur noch reagieren auf geistige Bewegungen, die sich ausserhalb ihrer und im Gegenzug zu ihnen entwickelt haben - und sie haben überdies meistens erst mit grosser Verzögerung darauf reagiert. Organ dieser Reaktion waren nicht mehr Heilige und Kirchenlehrer, son­dern das kirchliche Lehramt. Im Lauf des neunzehnten Jahrhundert be­gann das Lehramt langsam, sich gegen die Trennung von Vernunft und Glaube und gegen die christentumskritischen Philosophien zur Wehr zu setzen. Es tat dies allerdings auf recht eigenartige, indirekte und negative Weise: indem es nämlich die katholischen Denker verurteilte, die sich mit den neuzeitlichen Philosophien auseinandersetzten und die dafür bei der Ausdrucks- und Denkweise ihrer (normalerweise bereits verstorbe­nen) Gesprächspartner Anleihen machten. Dieses Vorgehen des Lehr­

Next

/
Oldalképek
Tartalom