Folia Theologica 11. (2000)
Peter Henrici: Die Enzyklika zum dritten Jahrtausend. Fides et ratio
DIE ENZYKLIKA ZUM DRITTEN JAHRTAUSEND 9 Nach der klassischen Dramentheorie geht es im zweiten Akt um die „Schürzung des Knotens”. Was ist dieser Knoten? Im Hochmittelalter befinden wir uns in einer schon gänzlich christianisierten Welt. Nicht mehr die christliche Botschaft, sondern die bereits traditionelle Theologie muss sich jetzt auf neue Weise mit der Philosophie auseinandersetzen. Auf gänzlich unerwartete Art und aus nicht vorhersehbaren Gründen. Unversehens steht den christlichen Theologen nicht mehr der Platonismus als Dialogpartner gegenüber, sondern der Aristotelismus. Mit dem Platonismus war im Lauf der jahrhunderte eine Verständigung über die christliche Auferstehungs- und Gnadenlehre möglich geworden; den Aristotelismus dagegen hatte die christliche Theologie bislang fast nur als Quelle von Häresien kennen gelernt. Mehr noch, es war ein von monotheistischen, schöpfungsgläubigen Juden und Muslimen kommentierter und teilweise uminterpretierter Aristoteles, mit dem die mittelalterlichen Theologen ins Gespräch kommen mussten. Der zweite Akt unseres Dramas wurde vom Vordringen des Islam eingeleitet. Wie ein Halbmond begann dieser das christliche Abendland zu umschliessen - im Osten vor allem mit Waffengewalt, bis zum Sturz von Konstantinopel, bis zur Schlacht auf dem Amselfeld, dem Kosovopolje, deren Nachwirkungen wir heute miterleben. Im Westen dagegen, auf der iberischen Halbinsel, zeigte der Islam neben dem militärischen auch sein gelehrtes Gesicht. Weil er sich mit den islamischen Kommentatoren des Aristoteles auseinandersetzen musste, ist Thomas von Aquin zum grössten christlichen Aristoteliker geworden. Der interreligiöse Dialog, der durch das Vordringen des Islam unausweichlich wurde, spielte sich in erster Linie als philosophische Diskussion um die rechte Interpretation des Aristoteles ab. Da begann sich der Knoten zu schürzen, und zwar auf wahrhaft dramatische, ja tragische Weise. Im Dialog mit dem Islam, der selbst ein nachchristlicher Schöpfungsglaube ist, musste eines der scheinbar abstraktesten philosophischen und theologischen Probleme zum Hauptthema werden: das Verhältnis der Geschöpfe zum Schöpfergott und, damit verbunden, die Konstitution des endlichen Seienden. Genau an diesem Punkt, den heute die Studenten als unerhebliche und weithin unverständliche Lehrbuchmaterie pauken, beginnt die dramatische, ja tragische Geschichte der Neuzeit. Denn seit dem Spätmittelalter war die von christlichen Denkern nach und nach umgestaltete und der Schöpfungslehre angepasste griechische Philosophie - das Werk der Kirchenväter und das Werk eines Albert des Grossen, eines Thomas von Aquin und eines Bonaventura - nicht mehr die einzige Ma