Folia Theologica 7. (1996)

Stanislav Zvolenský: Der "dolus" nach dem kanonischen Eherecht

DER „DOLUS” NACH DEM KANONISCHEN EHERECHT 95 Auf der Suche nach der Lösung war besonders aktiv Heinrich Flatten, Professor für Kirchenrecht an der Universität Tübingen. Er stellte eine Reihe von Ehen vor, die unter dem Einfluß des dolus geschlossen worden waren44. Ein besonders erschreckendes Beispiel stellt der Fall vor, als ein 44 FLATTEN H., Der error qualitatis dolose causatus als Ergänzung zu c. 1083 § 2 C/C, erschienen in: ÖAKR 11 (1960) 249-264, zitiert aus: FLATTEN H., Gesam­melte Schriften zum kanonischen Eherecht, Paderborn 1987, 249-250: „Um anschaulich zu zeigen, um welch dringendes Problem es hier geht, seien aus der Überfülle von Tatbeständen wenigstens ein paar mit kurzen Strichen skizziert. Ein erster Fall: Ein evangelischer Mann merkt, daß er ein überzeugungstreues kat­holisches Mädchen nur gewinnen kann, wenn er ihm in der religiösen Frage entge­genkommt. So heuchelt er Zuneigung zur katholischen Kirche, besucht mit ihr sonntags die Messe, unterschreibt anstandslos die Mischehenkautionen, ja meldet sich kurz vor der Heirat zum Konvertitenunterricht an. Aber gleich nach der Hoch­zeit läßt er die Maske fallen und erklärt brutal, er habe nie im Emst gedacht, ka­tholisch zu werden oder auch nur die Kautionen einzuhalten. Ein zweiter Fall: Fünf Wochen nach der Hochzeit sitzt das junge Paar abends bei­sammen, als plötzlich die Frau hinfällt und in Krämpfen um sich schlägt. Schwere Epilepsie. Daran litt die Frau schon seit dem 16. Lebensjahr. Aber sie und ihre Fa­milie haben das sorgsam vor dem Bräutigam geheimgehalten, weil sie nur zu ge­nau wußten, daß sonst das Verlöbnis zu Ende wäre. Ein dritter Fall: Es schellt an der Wohnungstür. Als die junge Frau — seit einem halben Jahr verheiratet — die Tür öffnet, stehen da drei Polizisten. Sie dringen so­fort durch den Flur ins Zimmer ein. Ehe ihr Mann aufspringen kann, schnappen schon die Handschellen zu. Ein Jahr vor der Heirat war ein Sparkassenbote über­fallen und niedergestochen worden. Erst jetzt konnte man den Täter ausfindig ma­chen. Die Frau war völlig ahnungslos gewesen. Ein vierter Fall: Ein Hochstapler hatte sich die Mitgliedschaft in einer Studentenkor­poration erschwindelt und auf diesem Umweg Eingang bei den angesehensten Fa­milien einer Kleinstadt gefunden. Dort machte er die Bekanntschaft eines jungen Mädchens. Doch die Familie wollte von einer Heirat nur etwas wissen, wenn er zu­vor eine entsprechende Position errungen habe. So zog sich das Verlöbnis sehr in die Länge. Inzwischen feierte er in großem Stil sein angebliches Referendarexamen; nach drei Jahren machte er es ebenso mit dem Assessorexamen. Und dann fand die Hochzeit statt. Erst hernach wurde er entlarvt. Er hatte weder Assessorexamen noch Referendarexamen, ja nicht einmal ein Abiturzeugnis aufzuweisen. Ein fünfter Fall: Auf einem Kirmesabend hatte sich ein Student auf dem Nachhau­seweg mit einem Mädchen vergangen. Fünf Wochen später erscheint sie mit ihrer Mutter im Elternhaus des jungen Mannes; das Zusammensein sei nicht ohne Folgen geblieben, er müsse sie jetzt heiraten. Nach langem Sträuben gibt er nach. Er muß das Studium abbrechen und eine Stelle antreten, um Geld für die junge Familie zu verdienen. Und dann stellt sich drei Monate nach der Hochzeit, als das Kind — nach der Erwartung des Mannes viel zu früh — zur Welt kommt, der Schwindel heraus: Das Kind stammt von einem anderen Mann. Der Betrogene beantragt sofort beim weltlichen Gericht die Aufhebung der Ehe. Aber wie er dann auch vor der Kir­che frei werden will für eine neue Ehe, kann er es nicht fassen, daß er zur Antwort erhält: Gewiß erglistig getäuscht und doch für immer gebunden!”

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