Folia Theologica 6. (1995)
Bruno Primetshofer: Die Fähigkeit zum Ehekonsens nach Kanonischem Recht
DIE FÄHIGKEIT ZUM EHEKONSENS 17 a priori vorhandenes Nichtdeterminiertsein und durch die Möglichkeit einer autonomen Eigenbestimmung („sese determinandi”) gekennzeichnet. Diese verlange Herrschaft über die das Handeln bestimmenden Motive, d.h. die Fähigkeit, eine Entscheidung aus geeeigneten, gültigen und richtigen Motiven zu treffen, die zuvor vom Intellekt erkannt und dem Willen präsentiert werden. Bei der Beurteilung der Frage, ob eine im Sinne von c. 1095, 2 ausreichende discretio iudicii vorliege, sei nicht punktuell, gleichsam monokausal auf Reife des Intellekts und/oder des Willens abzustellen, sondern es müsse die Gesamtpersönlichkeit des Kontrahenten entsprechend berücksichtigt werden. Was die Ursachen des in c. 1095, 2 angesprochenen Mangels an discretio iudicii anlangt, so kann diese einerseits durch eine Reihe von dem Bereich der Psyche berührende Krankheiten, z.B. Schizophrenie, Epilepsie, Drogenabhängigkeit (Toxikomanie), andererseits aber durch Störungen in der Persönlichkeitsentwicklung bedingt sein. Hiezu zählen etwa Narzißmus, ausgeprägter Egoismus, überstarke Mutterbindung, obsessive Neurose etwa in Form einer Hypertrophie von Ideen und Prinzipien, Perfektionismus, Ordnungs- und Reinlichkeitsfanatismus, Konzentration auf Nebensächlichkeiten, Starrsinn, totales Besitzenwollen oder Vereinnahmen anderer. Eine im Augenblick der Eheschließung vorhandene schwere seelische Erschütterung, ausgelöst etwa durch einen „metus ab intrinseco”, könnte ebenfalls Ursache für eine Ehenichtigkeit aufgrund mangelnden Urteilsvermögens sein37. Ferner spielt altersbedingte Unreife eine Rolle, wenn sie einen solchen Schweregrad erreicht, daß der Kontrahent grundlegenden existentiellen Aufgaben nicht nachkommt. Die SRR betont in diesem Zusammenhang allerdings, daß keine absolute psychische Reife zur Eingehung einer Ehe gefordert sei; als rechtlich relevant könnten nur schwerwiegende diesbezügliche Mängel bezeichnet werden. Denn die Ehe sei nicht Endpunkt, sondern Anfangspunkt eines vollen menschlichen Reifungsprozesses38. 37 Vgl. dazu U. MOSIEK, Metus ab intrinseco incussus als Ehenichtigkeitsgrund, in: Convivium utriusque iuris. FS für A. Dordett, Wien 1976, 243-254; HEIMERL-PREE, Kirchenrecht (Anm. 7) 229. 38 PREE, Neuestes (Anm.12), 69-74.