Folia Theologica 3. (1992)
Leo Scheffczyk: Zur Unsterblichkeitsproblematik bei Thomas von Aquin
70 L. SCHEFFCZYK Davon ist nun die Auffassung von der anima separata unmittelbar betroffen. Sie überdauert zwar aufgrund ihrer Subsistenz, aber sie besteht nicht mehr in der Einheit der Person. Ihr eignet eine unvollkommene, unnatürliche Existenz, weil es zur Natur der Seele gehört, mit dem Leib geeint zu sein.57 Ihr Vorzug als subsistentes geistiges Sein bleibt zwar erhalten, aber er ist verbunden mit einer tiefreichenden Defizienz in der Existenz.58 Das muß sich auch auf die Tätigkeitsweise der Seele auswirken, die kein von den Sinnen ausgehendes Erkennen mehr besitzt. Andererseits kann sie das rein geistige Erkennen und Wollen als geistiges Sein nicht verlieren und damit auch unter dem Einfluß eines natürlichen göttlichen Lichtes in einer Weise erkennen, die mitten in aller Defektibilität dem Erkennen der reinen Intelligenzen doch wieder ähnlich ist.59 Es kehren also auf dieser Stufe ähnliche antithetische Aussagen wieder, wie sie schon von der mit dem Leib vereinten Seele gemacht wurden. Die wichtigste Aussage aber ist wohl die, daß die leibgetrennte Seele eine ihr wesentliche Relation zum Leibe behält,60 d. h. auch ihre Beziehung zum Leibe und ihre Sehnsucht nach ihm, von der Thomas sagt, daß sie auf Dauer schließlich nicht unerfüllt und unbefriedet bleiben kann, worin sich schon ein theologischer Grund andeutet. Alle diese Aussagen bleiben zwar für das anschauliche Denken schwierig, sie sind aber nicht widersprüchlich und nach dem Ansatz des thomasischen Denkens über Leib und Seele folgerichtig. Im übrigen gibt Thomas die gedanklichen Schwierigkeiten seiner Position bezüglich der Unsterblichkeit selbst zu, die er (anders als sein Lehrer Albert) sogar philosophisch in Auseinandersetzung mit Platonikern, Neu- platonikern und Averroisten zu beweisen versucht und als beweisbar erachtet. Er sagt an einer Stelle der theologischen Summe (I q. 89 a. 1), daß das Erkenntnisleben der „anima separata” für die Platoniker, die nur 57 S. c. g. IV 79. 58 S. c. g. IV 79.1 co. 59 S. c. g. II 81: „... recedens ab infimo appropinquat ad summum; unde et quando totaliter erit a corpore separata, perfecte assimilabitur substantiis separatis quantum ad modum intelligendi, et abunde influentiam earum recipiet". 60 Comp. theol. 151; vgl. S. c. g. IV 79: „Anima autem a corpore separata est aliquo modo imperfecta, sicut omnis pars extra suum totum existens; anima enim naturaliter est pars humanae naturae. Non igitur homo potest ultimam felicitatem consequi, nisi anima iterato corpori coniungatur."