Folia Theologica et Canonica 1. 23/15 (2012)
IUS CANONICUM - Joseph Gehr, Die Förderung der affektiven Reife in der Seminarausbildung. Eine unerlässliche Voraussetzung zur Vorbereitung auf das zölibatäre Leben des Priesters
DIE FÖRDERUNG DER AFFEKTIVEN REIFE IN DER SEMINARAUSBILDUNG 241 7. Formung des Gefühlslebens Gemäß „Pastores dabo vobis“ werden die Neigungen des Gefühls- und Trieblebens durch das Charisma der Ehelosigkeit nicht beseitigt oder verändert, sondern bleiben bestehen52. Es ist daher notwendig, während der Zeit der Seminarausbildung das Gefühlsleben im Sinne der Reife zu formen. Es wird darum gehen müssen, Neigungen und Triebe zu integrieren und jene geistlichen Waffen zu ergreifen, die für den das ganze Leben andauernden geistlichen Kampf von Bedeutung sind. Der Beitrag der Humanwissenschaften in diesem Zusammenhang, insbesondere der Psychologie, kann eine Hilfe sein, um die fundamentale Dynamik der menschlichen Psyche kennenzulemen. Der Einsatz dieser Mittel darf aber nicht dazu führen, die erzieherische Leistung des Seminarkollegiums zu verdrängen oder die absolut notwendige Begegnung mit dem Herrn zu ersetzen. Versuche, die evangelischen Räte ohne die begeisternde und lebendige Beziehung zu Christus, sondern durch De- und Restrukturierungsprozesse der Persönlichkeit des Priesterkandidaten zu intemalisieren, haben zu keinen befriedigenden Ergebnissen geführt. Im Gegenteil, die Verfahren zur Dispens von den Verpflichtungen der Priesterweihe dokumentieren einen tragischen, falschen Gebrauch der Humanwissenschaften in der priesterlichen Ausbildung53. Die von der Bildungskongregation erlassenen „Leitlinien für die Anwendung der Psychologie bei der Aufnahme und Ausbildung von Priesterkandidaten“ sind in diesem Zusammenhang ein unerlässlicher Bezugspunkt für den rechten und legitimen Einsatz dieser Hilfswissenschaft in der Priesterausbildung. Um Kompetenzüberschreitungen auszuschließen, legen sie ausdrücklich fest, dass Psychologen „nicht Mitglieder im Ausbildungsteam sein“54 dürfen. Ihr gutachterlicher Dienst im Rahmen des Aufnahmeverfahrens und während der Ausbildungszeit im Sinne einer psychologischen Begleitung zur Aufarbeitung unbewusster Phänomene, die zum Normalbereich psychischen Funktionierens gehören, kann sinnvoll und notwendig sein55. Da das Charisma der Ehelosigkeit ein übernatürliches Geschenk des Heiligen Geistes ist, bedarf es der Anerkennung des Primats der Gnade im Prozess der Formung des Gefühlslebens. Diese göttliche Gabe blüht und reift bis zur Entfaltung der Persönlichkeit des Priesters einzig in der vertrauten, echten und personalen Beziehung mit Jesus von Nazareth. Nur die betende Nähe zum Herrn, das voranschreitende Einfühlen in sein Leben, in seine Worte und Gedanken 52 Vgl. Johannes Paul II, Pastores, Nr. 44, 81. 53 Vgl. Piacenza, Formazione affettiva, 24—25. 54 Kongregation Bildungswesen, Psychologie, Nr. 6,10. 55 Vgl. Tapken, A., Der Beitrag der Psychologie in der Ausbildung künftiger Priester, in Seminarium 2-3 (2009) 321-334, hier 324-333.