Folia Canonica 7. (2004)
STUDIES - Helmuth Pree: Der Rechtscharakter des kanonischen Rechts und seine Bedeutung für die Kirche
DER RECHTSCHARAKTER DES KANONISCHEN RECHTS 51 Ausdrücklich werden Vorstellungen zurückgewiesen, denen zufolge der neue Kodex eine bloße Glaubens- und Sittenregel anstatt eines rechtlich verbindlichen Gesetzbuches sein sollte. Der Rechtscharakter werde von der Sozialnatur der Kirche erfordert. In den Texten des Vat II findet sich nur eine einzige, explizite Bezugnahme auf das kanonische Recht, und zwar im Dekret über die Ausbildung der Priester: „Similiter in iure canonico exponendo et in historia ecclesiastica tradenda re- spiciatur ad Mysterium Ecclesiae, secundum Constitutionem dogmaticam “De Ecclesia" ab hacS. Synodo promulgatam."1 LG selbst spricht nicht ausdrücklich vom Kirchenrecht, enthält aber eine weichenstellende Aussage in LG 8 a über die untrennbare Einheit zwischen sichtbarer Versammlung und geistlicher Gemeinschaft, irdischer und mit himmlischen Gaben ausgestatteter Kirche, in Analogie zum Fleisch gewordenen Wort. Dieses Kirchenverständnis, wie auch die übrigen ekklesiologischen Positionen von LG, muss das kanonische Recht, OT 16 zufolge, berücksichtigen und zu Grunde legen. Es gilt für das kanonische Recht, das Ganze der Kirche, nicht etwa nur ihre äußerlichen und sichtbaren Aspekte, im Auge zu behalten. Allein aus der Umschreibung des Mysteriums der Kirche in LG für sich genommen ist noch keine Antwort auf die Frage zu gewinnen, worin das Kirchenrecht seinem Wesen nach besteht, was seinen Rechtscharakter ausmacht, ob dieser theologisch begründet ist, ob das Kirchenrecht, insoweit es Recht ist, sein Wesen mit allem Recht dieser Welt teilt oder ob der Rechtscharakter des kanonischen Rechts sich grundlegend von dem des weltlichen Rechts unterscheidet. Das Bedürfnis nach Klärung dieser Grundfrage des kanonischen Rechts wurde spätestens mit der erneuerten Ekklesiologie unabweisbar, zumal sich ein Gegensatz aufzutun schien zwischen Recht und Theologie, zwischen Recht und Pastoral:7 8 Ist das Recht nicht eine dem Wesen der Kirche fremde, weil äußerliche und letztlich der mittelalterlichen Verflechtung von Kirche und politischem Gemeinwesen zu verdankende Erscheinung? Dazu kam die enge Verbindung des 7 J. Neuner, Kommentar zu Vat II OT, in LThK, Suppl. II (1967) 345: „Kirchenrecht und Kirchengeschichte sollen als Ausdruck des kirchlichen Lebens dargestellt werden; sie sollen das in der Kirchenkonstitution enthaltene Bild der Kirche in der historischen und gesellschaftlichen Dimension konkretisieren.“ In der Promulgationskonstitution ,,Sacrae Disciplinae Leges“ benennt der Papst unter den Elementen, die das wahre und eigentliche Bild der Kirche ausdrücken, besonders folgende: Die Lehre von der Kirche als „Volk Gottes“ (vgl. LG 2); von der hierarchischen Autorität als Dienst (servitium); von der Kirche als communio (Beziehung zwischen Teilkirche und Gesamtkirche, zwischen Kollegialität und Primat); von der Teilhabe aller Getauften am dreifachen munus Christi und den Pflichten und Rechten aller Gläubigen, besonders der Laien; schließlich verweist der Papst auf den von der Kirche zu erbringenden ökumenischen Eifer. 8 Ausführlicher hierzu: C. J. ErrAzuriz M., Il diritto e la giustizia nella Chiesa. Per una teória fondamentale del diritto canonico, Milano 2000, 51-59.