Folia Canonica 7. (2004)

STUDIES - Helmuth Pree: Der Rechtscharakter des kanonischen Rechts und seine Bedeutung für die Kirche

52 HELMUTH PREE Rechts mit der kirchlichen Hierarchie, sodass das Recht in den Augen der Kriti­ker schlechthin als das erscheinen musste, was die Hierarchie als Recht erlässt. Das Recht sei demnach etwas rein Technisches und allenfalls dort, wo es in der Kirche unumgänglich sei (Zuständigkeitsregeln, Verfahren, Kirchenvermö­gen), als kleineres Übel zu tolerieren. Die Sohm’sche Herausforderung stand nach wie vor im Raum. So sah sich das Kirchenrecht in die Enge getrieben und nach mehreren Seiten hin unter Rechtfertigungszwang. Muss das Recht in der Kirche nicht Ausdruck des Mysteriums der Kirche sein und muss daher nicht gelten: Je weniger Rechtscharakter, desto stärker könne und solle sein theologi­scher Charakter zum Durchbruch kommen! ? Auch unter Berufung auf die Pasto­ral wurde die Forderung erhoben, das Recht müsse pastoral ausgerichtet sein, was häufig dahingehend verstanden wurde, dass das Recht per se eben nicht pa­storal, sondern eher ein Hindernis (Formalismus, Machtausübung, Bürokratie) für die pastorale Entfaltung sei. Nicht das Recht, sondern die Liebe sei das „Ge­setz“ der Kirche. Durchsetzbares Recht sei mit seiner Strenge dem Evangelium fremd. So musste man auch für die Pastoral fragen, ob nunmehr das Prinzip gel­ten solle: Je weniger Recht, desto wirkungsvoller die Pastoral? Die folgenden Ausführungen sollen aufzeigen, dass diese Unsicherheiten ihre entscheidende Ursache nicht so sehr in theologischen Fehleinschätzungen über das Wesen der Kirche und ihrer Sendung hatten, als vielmehr in der Unge- klärtheit des Rechtsbegriffs: Was ist und was soll das Recht in der Kirche? Was macht das Wesen des Kirchenrechts aus? 2. Lösungsansätze (Beispiele) Man könnte von einer Krise des kanonischen Rechts9, und in ihrer Folge, ei­ner Krise der Kanonistik sprechen. Ohne auf Einzelheiten eingehen zu können und im Bewusstsein der damit verbundenen Vereinfachungen, sollen zunächst einige der wichtigeren nachkonziliaren Schulen und Strömungen mit ihren Grundthesen überblicksartig genannt werden.10 11 (1) Unter dem Schlagwort einer Enttheologisierung des Kirchenrechts und einer gleichzeitigen Entjuridifizierung der Theologie pflegt man eine Strömung mit Vertretern wie T. I. Jiménez Urresti11, L. Örsy12 oder P. Huizing13 zusammen 9 C. R. M. REDAELLI, II concetto di diritto della Chiesa nella riflessione canonistica tra Concilio e Codice, Milano 1991, 260-272. 10 Vgl. Redaelli, Concetto di diritto (Anm. 9); Errázuriz M., Diritto (Anm. 8) 41-89. 11 T. I. JlMENEZ Urresti, La cienda dei derecho canónico o canonistica? Es sciencia teo- logica?, in REDC 41 (1985) 9-59. 12 L. ÖRSY, Theology and Canon Law. New Horizons for Legislation and Interpretation, Collegeville-Minnesota 1992 13 Vgl. die kritische Studie von J. Vries, Kirchenrecht oder Kirchenordnung? Zum Kir­chenrechtsverständnis bei Peter Huizing, St. Ottilien 1998.

Next

/
Oldalképek
Tartalom