Folia Canonica 6. (2003)

STUDIES - Peter Landau: Seelsorge in den Kanonessammlungen von der Zeit der gregorianischen Reform bis zu Gratian

72 PETER LANDAU das Kapitel im Zusammenhang mit einem unmittelbar vorangehenden Pseu­do-Gregortext,98 der den Mönchen mit Priesterweihe zusammen mit der ihnen zuerkannten Schlüsselgewalt auch das Recht auf alle kirchlichen Einkünfte wie Zehnten und Oblationen zubilligt. Beide Gratiankapitel findet man ausserhalb des Dekrets ohne Inskription auf ‘Gregorius’ nur in einer aus Pontida bei Berga­mo stammenden Handschrift der Rezension B des Anselm von Lucca,99 dort je­doch als ein Kapitel. Die Anselm-Handschrift stammt bereits aus dem letzten Jahrzehnt des 11. Jahrhunderts; doch ist das Pseudo-Gregor-Kapitel ein späterer Zusatz zu Buch VII, der dort wahrscheinlich in den ersten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts vor der Verbreitung Gratians eingetragen wurde. Daraus ergibt sich der Befund, dass der Pseudo-Gregor-Text eine wesentlich veränderte Text­gestalt nach 1100 in Norditalien erhielt und wohl von dort aus das Decretum Gratiani erreichte. V. antimonastische Fälschungen Im 11. und 12. Jahrhundert kursierten jedoch in den Kanonessammlungen auch zwei andere Fälschungen, die den Ansprüchen der Mönche entgegentraten und sie ganz im Sinne der altkirchlichen Tradition weiterhin von der Seelsorge ausschliessen wollten. Die erste dieser Fälschungen ist ein angeblicher Kanon des Konzils von Nicäa mit dem Incipit „Placuit omnibus residentibus in sancta Nicena synodo.“ Ich habe ihn bereits im Zusammenhang mit der Sammlung Po- lycarp erwähnt.100 Der Kanon schliesst die Mönche generell von der Verwaltung der Busse und des Begräbnisses aus, sofern die Betroffenen nicht ihrerseits Mönche seien. Die Argumentation im angeblichen Konzilskanon ist etymolo­gisch, was im Text ausdrücklich hervorgehoben wird. Das griechische Wort ,Monachus1 sei im Lateinischen Singularis und bedeute, dass ein Mönch jeweils als einzelner -,singulariter“ - handeln müsse.101 Das schliesst offenbar Seelsor­ge aus. Es ist natürlich aus heutiger Sicht überraschend, dass der Fälscher es für 98C.16, q.l, c.23. 99 In m.s. Vat. lat. 1364, f. 91va. Zu dieser Handschrift cf. K. Zechiel-Eckes, Eine Mai­länder Redaktion der Kirchenrechtssammlung Bischof Anselms II. von Lucca (1073-1086), in ZRG, Kan. Abt. 81 (1995) 130-147. Die Handschrift wurde bereits um 1095 geschrieben und wohl später durch Zusätze ergänzt. Zu diesem Manuskript cf. auch S. Kuttner-R. Elze, A Catalogue of Canon and Roman Law Manuscripts in the Vatican Library, vol. I, Città del Va­ticano 1986, 137s. mit Angaben zur Herkunft der Handschrift aus dem Cluniacenser-Kloster Pontida bei Bergamo, und schon vorher G. Spinelli, II Vat. lat. 1364 e l 'Abbazia di Pontida, in Rivista di storia della Chiesa in Italia 26 (1972) 101-104. 100 Cfr. oben n. 45 mit Edition des Textes nach Polycarp, 101 „Monachus enim grece, latine dicitur unus. Unde monachum per omnia singulariter vi­vere, agere oportet.”

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