Folia Canonica 6. (2003)
STUDIES - Peter Landau: Seelsorge in den Kanonessammlungen von der Zeit der gregorianischen Reform bis zu Gratian
SEELSORGE IN DEN KANONESSAMMLUNGEN 65 IV. Gefälschte Rechtstexte für das Recht auf Seelsorge Durch die eingangs geschilderte Konkurrenz von Mönchen, Regularkano- nikem und Säkularklerikern seit etwa 1050 entstand die Frage, ob Mönche aufgrund ihrer Priesterweihe Seelsorgefunktionen ausüben könnten. Papst Alexander II. untersagte 1064 in einer an den Klerus und das Volk von Florenz gesandten Dekretale den Mönchen jede Predigtaktivität unter Berufung auf das Konzil von Chalcedon und die Regula Benedicti47 - die entsprechende Dekretale wurde in die Collectio Britannica aufgenommen,48 gelangte über sie in Ivos Dekret49 (7.151) und die Collectio Tripartita (Trip.3.31.11 ),50 schliesslich über die Tripartita in Gratians Dekret (C.16, q.l, c.ll).51 Alexander II. (Anselm I. von Lucca) vertrat folglich dieselbe Linie wie sein gleichnamiger Nachfolger auf dem Bischofsstuhl von Lucca, Bischof Anselm IL, der Kanonist. Die gegenteilige Ansicht, nach der die Mönchspriester sogar eine Rechtspflicht zur Seelsorge hätten, findet man jedoch in zwei sehr erfolgreichen Fälschungen auf die Namen der Päpste Bonifatius IV. und Gregor L, die in den Ka- nonessammlungen und der Traktatliteratur des späten 11. und 12. Jahrhunderts einen erstaunlichen Erfolg hatten.52 Das angebliche Dekret Bonifatius“ IV, nach frühen Überlieferungen vom Papst auf einem Konzil erlassen53, will den Mönchen generell die Ausübung priesterlicher Funktionen gewähren. Zur Begründung legt es dar, dass ein Mönch wie Gregor I. Papst werden konnte und Mönche zur Bischofswürde auf- stiegen, unter ihnen der Angelsachsenmissionar Augustinus und der Heilige 47 Rezipiert in C.16, q.l, c.l 1 (JL4552). Text nach C.16, q.l, c.l 1 Friedberg (ed.): „Iuxta Calcedonensis tenorem optimi concilii monachis quamvis religiosis ad normam S. Benedicti intra claustrum morari precipimus; vicos, castella, civitates peragrare prohibemus, a populorum predicatione omnino cessare censuimus, nisi forte quis, de suae animae salute sollicitus, ut eorum habitum assumat eos intra claustrum consulere voluerit.” 48 Zur Rezeption von JL 4552 in der Collectio Britannica cf. P. LANDAU, 'Wandel und Kontinuität im kanonischen Recht bei Gratian ’, in J. MlETHKE - K. SCHREINER (a cura di), Sozialer Wandel im Mittelalter, Sigmaringen 1994, 215-233, hier 231 (no. 81). 49 Ivo, Decr. 7.151, ed. P.L. 161, col. 582. 50 Collectio Tripartita 3.11.11, m.s. Vat. lat. Reg. 973, fol. 142 vb. 51 C. 16, q. 1, c. 11. Es kommen nur die Collectio Tripartita oder Ivos Dekret als Quelle Gratians in Frage. Da Ivos Dekret wahrscheinlich nicht zu Gratians unmittelbaren Quellen gehörte, bleibt nur die Tripartita übrig. Gratian lässt gegenüber den Sammlungen Ivos im ersten Satz die Wendung ‘cuius series annectitur inferius’ weg. 52 JE+1996 (Bonifatius IV.) und JE+1951 (Gregor I.). 53 Cfr. die auf zwei Handschriften (Cambridge, Trinity College 405 und London, Lambeth Palace 171) sowie auf dem Druck von Ivos Dekret (Decr.7.22) bei Migne beruhende Edition von H. BÖHMER, Die Fälschungen Erzbischof Lanfranks von Canterbury, in Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche, VIII/1, Leipzig, 1907, rist. Aalen 1972, 161-163.