Folia Canonica 5. (2002)
STUDIES - Brend Eicholt: Gewaltenunterscheidung Statt Gewaltentrennung im kanonischen Verfassungsrecht
186 BERND EICHOLT deres gilt jedoch für die beiden anderen genannten Gewalten. Unter der rechts- anwendenden Gewalt wurde nämlich die Gewalt verstanden, „im Einzelfall hoheitlich über den wahren Sinn der Gesetze sowie über das Übereinstimmen der Handlungen der Untertanen mit dem Gesetz zu entscheiden”.36 Diese Gewalt umfaßte sowohl die richterliche als auch die verwaltende Tätigkeit.37 Der Inhalt der Strafgewalt wurde nicht einheitlich definiert: Teilweise wurde unter Strafge- walt allein die Verhängung von Strafen bzw. Zwangsmitteln verstanden;38 nach einer weitergehenden Auffassung39 umfaßte diese Gewalt sowohl Maßnahmen der Rechtsanwendung (richterlicher oder verwaltender Natur) als auch gesetzgebende Akte (Erlaß von Strafgesetzen). Es gab jedoch auch die Auffassung, daß für die Frage der Unterscheidung der Funktionen nicht c. 335 § CIC 1917, sondern c. 201 §§2,3 CIC 1917 herangezogen werden sollten. Die in c. 201 § 2 CIC 1917 angesprochene richterliche Gewalt war die, welche ein Richter in einem Prozeß der streitigen oder der Strafgerichtsbarkeit ausübt. Unter der nicht-richterlichen Gewalt, der „freiwilligen Gerichtsbarkeit” wurde dagegen das Verwaltungshandeln und die Gesetzgebung verstanden.40 Die in der weltlichen Staatsrechtswissenschaft übliche Aufteilung in gesetzgebende, vollziehende und richterliche Gewalt wurde daher für das kanonische Recht in der Regel nicht nutzbar gemacht.41 Mörsdorf hat sich als einer der ersten Kanonisten vom Wortlaut des c. 335 § 1 (bzw. c. 201 ) CIC 1917 gelöst und festgestellt, auch dem CIC 1917 liege die Aufteilung der Leitungsgewalt in die gesetzgebende, die verwaltende und die richterliche Funktion zugrunde, auch wenn dies an keiner Stelle ausdrücklich angesprochen wurde. Dafür spreche, daß für jede dieser Funktionen jeweils besondere Regelungen zu beachten sei36 vgl. Mörsdorf, Rechtsprechung (Fn. 35), S. 20. 37 K. Mörsdorf, Die Regierungsaufgaben des Bischofs im Lichte der kanonischen Gewaltenunterscheidung, in Episcopus, Festschrift für Michael Kardinal von Faulhaber, Theologische Fakultät der Universität München (Hsg.), Regensburg 1949, S. 257 ff. (259); H. Jone, Gesetzbuch der lateinischen Kirche, I. Band Allgemeine Normen und Personenrecht, Paderborn 21950 (zitiert: Jone I), S. 222. 8 E. ElCHMANN, Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici, I. Band Einleitung, Allgemeiner Teil, Personenrecht, Sachenrecht I, Paderborn 41934, S. 137. 39 E. ElCHMANN — K. Mörsdorf, Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici, I. Band Einleitung, Allgemeiner Teil und Personenrecht, Paderborn 61949, S. 380, Fn. 1. 40 N. HlIXING, Das Personenrecht des Codex Iuris Canonici, Paderborn 1924, S. 94, Fn. 2. 41 s. nur Eichmann (Fn. 38), S. 136 f., der die Frage der Anwendung dieser „weltlichen” Unterscheidung im kanonischen Recht nicht einmal diskutiert; anders jedoch J. Johnson, De distinctione inter potes tam iudicalem etpotestam administrativam in iure canonico, in Apollinaris 9 (\936) S. 258 ff. (259).