Kassák Lajos: MA buch (Berlin, 1923, Facsimile: Kassák Múzeum, 1999)
zigste Jahrhundert herübergerettet hatte und dessen höchste Leistung auf literarischem Gebiete dazumal fast nur aus seichten Konversationsromanen bestand. Die heranwachsende junge Generation mußte jeden noch so geringen Erfolg mit beispielloser Ausdauer erkämpfen. Anno 1905 war hier der Naturalismus noch eine Sache, die den Beweis ihrer Existenzberechtigung erst mühsam zu erbringen hatte. Die Künstler, die sich um die Zeitschrift „Nyugat" gruppierten, waren beileibe nicht einheitlich orientiert: sie gehörten den verschiedensten, für die damaligen ungarischen Verhältnisse radikalen Richtungen an und waren nur in einem einig: im erbitterten Kampfe gegen den Akademismus, der in Ungarn, wo die sogenannte Wissenschaftliche Akademie jeder fortschrittlichen Bestrebung in Kunst und Wissenschaft ihr Veto entgegenstezte, auch einen konkreten Sinn hatte. Wie sich also Naturalisten, Symbolisten, Dekadenten usw. zum gemeinsamen Kampfe verbunden hatten, so befanden sich denn in ihren Reihen außer der eigentlich interessierten Generation ältere Künstler, die einen Sinn für die Moderne bewahrt haben, sowie eine ganz kleine Avantgarde der Jüngsten, gleichsam der linke Flügel der Nyugat-Bewegung, dem hier ungefähr dieselbe Rolle zufiel, die das Proletariat in den bürgerlichen Revolutionen zu spielen pflegt. Zu diesem linken Flügel gehörte auch Kassák, dem seine markante Originalität rasch den Weg bahnte. Sonst steht die erste Periode seiner künstlerischen Tätigkeit durchwegs im Banne des Naturalismus. Allerdings nicht des verfeinerten französischen, sondern des russischen Naturalismus, dessen urwüchsige Kraft seiner Begabung erklärlicherweise am nächsten lag. Seine Eigenart hat er wohl noch nicht gefunden, aber er schuf außer einer Reihe von Novellen von erschütternder Wirkung den Meisterroman des ungarischen Naturalismus: „Misillós Königreich" (1912). Eine Prosadichtung von überwältigender Wucht, die selbst in den Literaturen anderer europäischer Länder ihresgleichen suchen dürfte. Aber auch „Misillós Königreich" ist kein bloßer Roman mehr; in der mit machtvoller Sicherheit geschilderten Hauptfigur, einem selbstsüchtigen, habgierigen, geizigen, bodenhungrigen, tierisch-sinnlichen slowakischen Bauer, wird das brennendste soziale Problem der Zeit aufgerollt und ein Charakter entworfen, dem in den späteren sozialen Erschütterungen Ungarns eine so verhängnisvolle Bedeutung beschieden war: Misilló brachte die Diktatur des Proletariats mit seiner wirtschaftlichen Sabotage zum Sturze, in seinem Namen und auf seinem Rücken wurde das Regime des weißen Kurses errichtet. Die Dinge, die da kommen sollten, warfen ihren Schatten voraus. Um dieselbe Zeit fing Kassák an, Gedichte zu schreiben, die durchgehends in freier Form, in der rhythmischen Prosa Walt Whitmans verfaßt und aller konventionellen Fesseln entblößt waren. Dem deutschen Leser von heute wird es etwas unglaublich klingen, daß dies seinerzeit in Ungarn auch eine Art Revolution darstellte. Selbst die Dichter des „Nyugat" beobachteten zu dieser Zeit noch die 6