Török Dalma (szerk.): Mantel der Traume. Ungarische Schriftsteller erleben Wien, 1873-1936 (Budapest, 2011)

Wien-brevier - Frigyes Karinthy: Der strassen kehrer

FRIGYES KARINTHY: DER S T RAS S E N K E H R E R Motto: Gekehrt hab ich genug, solln andre sich ums Kehren scheren. Die Stadt Wien hat das Straßenkehren zu den eigenen Agenden gemacht, lese ich, daraufhin entließ sie drei ältere Straßenkehrer. Alle drei begingen Selbstmord. An ihre Stelle traten neue Straßenkehrer und kehrten. Einer von ihnen fand zwischen weggeworfenen Zeitungen, Papierfetzen einen Brief: Es war der letzte Brief eines der Straßenkehrer, die Selbstmord begangen hatten. Tief berührt las er ihn laut wie folgt vor: Heute kehre ich das letzte Mal, das letzte Mal. Dieser Tag sei den verbleichenden Erinnerungen meines Lebens geweiht: Wenn du diesen Brief liest, oh junger und starker Kehrer, der du besser kehrst als ich, werde ich nicht mehr unter den Lebenden sein. Ich kann diese Schande nicht ertragen, ich gehe freiwillig in den Tod, der für mich Erlö­sung ist. Kabale und Bosheit haben meinen Fall verursacht, und ich, oh Jüngling, ich gebe mich geschlagen. Ich habe eine großartige Laufbahn lang gekehrt, und in meinen letzten Minuten tröstet mich der späte Glanz meines vergangenen Ruhms. Aus dem Zwielicht bin ich dereinst plötzlich auf die Bühne der Öffentlichkeit getreten. Mein Vater und meine Mutter waren ganz einfache Menschen, sie waren gezwungen, mich lernen zu lassen. Ich absolvierte die Universität und erhielt ein Lehrerdiplom. Zehn Jahre lang stand mein Leben unter düsteren, schlechten Sternen, als dann unerwartet das Glück einschlug. Es war eine Straßenkehrerstelle für die Stadt ausgeschrieben, ich meldete mich und - wurde angestellt. Von dreißig Bewerbern wurde nur ich angestellt - als des Rätsels Lösung wähnte ich die suggestive Kraft meines Auftritts, da mein Diplom, das ich bei der Gelegenheit vorzeigte, in ihren Augen nicht schwer wog und als Qualifikation doch eher ärmlich schien: Unter den Bewerbern waren übrigens auch drei Juristen und vier Ärzte, die man aber alle ablehnte. Und meine Laufbahn begann, der Rausch des Erfolgs wurde mein ständiger Begleiter, folgte mir von Tag zu Tag. Nachmittags um fünf erschien ich auf der Straße, kehrte bis um zehn, um zehn wurde ich im Büro vorstellig, wo man mir Tag für Tag drei Kronen übergab. Den materiellen Aufschwung begründeten die moralische und künstlerische 219

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