Török Dalma (szerk.): Mantel der Traume. Ungarische Schriftsteller erleben Wien, 1873-1936 (Budapest, 2011)
Wien-brevier - Dezső Kosztolányi: Keine städte, die gegensätzlicher wären
1 in sich hineinstopfte und der Herr gemeinsam mit dem „lieben Volk” das süße Wundergetränk trank, schaurig schön, wie der Schneider aus der Vorstadt mit der vornehmen Dame tanzte, gemütlich, sehr gemütlich. Ich sah diesem Treiben zu, so befremdet, als sähe ich einem Freudenfest von Zulukaffern zu. So sehr ich auch meine Fantasie anstrengte, es gelang mir nicht, diese Festlichkeit über die Leitha zu versetzen. Ich glaube kaum, dass der Budapester Beamte aus Ferencváros so hungrig auf das Gratis-Fleisch wäre wie der Wiener. Da sah ich, dass uns Welten voneinander trennen. Unsere Politiker können vielleicht noch gute Freunde sein, aber diese beiden Städte nie. Freilich kann man aus solch kleinen Anzeichen keine Schlüsse ziehen, und die Schlüsse wären auch falsch, wenn dies nur Anzeichen wären und nicht das Resultat vieler zusammenwirkender Gründe, die in der Vergangenheit und dem Blut der beiden Völker wurzeln und den Charakter beider Städte prägen. Die unsere ist eine kleine Großstadt. Die ihre ist eine große Kleinstadt. Sie sind die gut gekleideten Demokraten, die verwöhnten und verfetteten Kinder mit der üppigen Lyrik des Wohlstandes. Wir allesamt sind hingegen ungarische Aristokraten; ohne Lyrik. Eine billige und nicht ganz vornehme Lyrik schwebt über ihnen, gegenüber der unsere wortlose Gleichgültigkeit schöner und auch vielleicht nobler ist. Diese Lyrik versinnbildlichen in prächtiger Weise jene zahlreichen Drehorgeln, die unaufhörlich in den Wiener Gassen weinen und jammern. Wir haben sie mit unseren Paragraphen schon längst zur Hölle geschickt. In Wien sind sie auch heute noch allgemeines Bedürfnis. Ihre Stadt ist nämlich die Stadt der Musik, wo es eine prunkvolle Oper gibt sowie Millionen von Konzerten und sogar die Hausmeisterstochter Strauss-Partituren spielt. Aber die Wiener Dame, die in der Oper eine Loge mietet, lauscht am Nachmittag im dämmernden Fenstererker einem Gassenhauer und weint sich aus vollem Herzen bei der Drehorgel aus, die - ach, Gott! - doch so sanft und traurig klingt. Aus dem Ungarischen von Júlia Wéber 218