Török Dalma (szerk.): Mantel der Traume. Ungarische Schriftsteller erleben Wien, 1873-1936 (Budapest, 2011)
Wien-brevier - Sándor Márai: Bekenntnisse eines bürgers
würden wenigstens nicht in der Fremde hungern, während sie sich über heimatliche Angelegenheiten beraten. Doch der ungarische Kamin soll in Wien qualmen, die Flamme unter dem Mastschwein prasseln, dieses Land ist noch reich genug, um seine Delegierten auf kaltem österreichischen Boden mit Lebensmitteln zu versorgen. Jedoch ist all das nur ein schöner Traum, vielmehr das Schleierbild einer schlaflosen Nacht. Von den 21 Kronen Tagesgeld, von denen der Magen des Delegierten knurrt, kann man sich nicht allzu viel erlauben. Vor hundert Jahren wären freiwillige Patriotinnen und emsige Damen herbeigeeilt, um den ungarischen Gesandten zu helfen; damals waren die Gefühle noch primitiv, sagen die Kinder unserer Zeit. Wir beruhigen uns Jetzt damit, dass der Ungar während tausend Jahren mehr erlitten hat als den Hunger der Gesandten. Wenn dann der Wind einem den Hut vom Kopf wehte, erginge es ihm genauso wie meinem alten Verwandten, dabei sage ich: Er war der einzige Ungar, der sich in Wien gut auskannte. Aus dem Ungarischen von Katalin Kamarell SÁNDOR MÁRAI: BEKENNTNISSE EINES BÜRGERS AUSZUG Die Wiener Verwandten machten den lieben langen Tag Musik. Die sechs Töchter spielten abwechselnd Geige und Klavier, auch Cello und Klarinette. Die knappe Zeit, die ihnen neben dem Musizieren blieb, füllten sie mit Tanzen aus. Das niedrige Haus in Hietzing widerhallte von der Musik, vom Geschrei und Gesang der Mädchen. Das Haus war am Verfallen, sie lebten zu zehnt in drei Zimmern, die sechs Mädchen, die Eltern, Franzi - der einzige Sohn, er fiel im Krieg - und Marie, die alte Dienstmagd, die schon vor dreißig Jahren alt war, über ihre schmerzenden Beine klagte und für die Familie kochte, unten im Keller, in der feuchten und dunklen Küche. Hinter dem Haus erstreckte sich lang und schmal ein Garten mit einem Reneklodenbaum darin, zwei alten Nußbäumen, an denen nur noch kümmerliche, kleine Nüsse gediehen, mit Himbeersträuchern und einem stark riechenden Holunderbaum in der hinteren Gartenecke. Unter die Nußbäume war ein Tisch mit Bänken drumherum gestellt, hier hauste die vielköpfige 213