Török Dalma (szerk.): Mantel der Traume. Ungarische Schriftsteller erleben Wien, 1873-1936 (Budapest, 2011)
Wien-brevier - Sándor Márai: Bekenntnisse eines bürgers
Familie vom Frühling bis in den späten Herbst hinein. Hier stand den ganzen Tag Vater Franz, der Maler, mit wehendem Haar, um den Hals eine Künstlerschleife, auf der langen und roten Kaspernase die Brille, in den Händen Pinsel und Palette, sorgenvoll die begonnene Leinwand auf der Staffelei betrachtend und zugleich dem Geigen- oder Klavierspiel aus den offenen Fenstern des Kinderzimmers lauschend. „Falsch, grundfalsch!“ rief er, wenn Trude oder Márta danebengriff. Gleichzeitig erzog er die sechs Mädchen, malte seine Bilder und zankte mit Marie, der Dienstmagd, und mit Róza, seiner Frau, die sich in der Küche zu schaffen machte. So vergingen Frühjahr und Sommer im Hietzinger Haus; so verging das Leben. Das Leben verging ohne Geld; mit Geld befaßte man sich in dem Hietzinger Haus eher nur ausnahmsweise. Die kleinen Nebenausgaben, die Kosten für Einkleidung, Erziehung und Ernährung von sieben Kindern, der Preis der Farbtuben, Pinsel und Leinwände und was sonst noch nötig war im Leben, Arzt und Medizin, Kleider und Bücher, Miete und Ferien, alles blieb dem Zufall überlassen, einem gnädigen Schicksal. Die Musik und die „Kunst“ ließen keine Zeit zum Geldverdienen. Onkel Franz malte ungeheuer viel. Er malte die sechs Töchter und seine Frau in jedem Lebensalter, er malte das Haus und den Garten, dann kamen die großen Bauwerke Wiens an die Reihe, Haustüren und Fenster in Lainz und Mödling, er malte die Verwandten, auch nach Photographien, er malte die Jahreszeiten, er malte jeden gefälligeren Blumenstrauß, der ihm unter die Augen kam, den Keller und den Dachboden. Aufseinen Bildern war alles zu finden, was die großen Meister auf ihren Leinwänden festhalten, er malte zart, ging behutsam mit den Farben um, hatte einen guten Blick für Licht und Schatten, verteilte die Gegenstände und Figuren im rechten Maß, und auf den ersten Blick schien es, diese Bilder seien makellos und trügen das Namenszeichen eines großen Meisters. Erst bei näherer Untersuchung und wenn man weitere Meisterwerke des Onkels gesehen hatte, fiel auf, daß den Bildern etwas fehlte. Und zwar fehlte diesen Bildern er, der Onkel. Er war so bescheiden, so zurückhaltend, daß er nie wagte, sich aufseinen Bildern zu zeigen. Er war Künstler, aber das letzte Wort hat er nie ausgesprochen. Sie lebten wahrhaftig wie die Vögel. Lebten unglaublich bescheiden, zwitscherten in ihrer Hietzinger Wohnung und warteten auf das Glück. Zuweilen flog das eine oder andere Mädchen aus, um draußen sein Glück zu machen; es heiratete oder folgte - im Walzerschritt - eine Zeitlang dem Takt einer plötzlich erwachten Leidenschaft. War dann die Ehe oder der Walzer zu Ende, kehrten sie nach Hietzing zurück. Marie, so zeitlos alt wie die Frauengestalten in der Bibel, stellte ein hochklappbares Bett ins Klavierzimmer oder auf die geschlossene Veranda, die Ausreißerin