Török Dalma (szerk.): Mantel der Traume. Ungarische Schriftsteller erleben Wien, 1873-1936 (Budapest, 2011)
Studien - Júlia Lenkei: Untergetaucht in Wien - Béla Balázs
Ihre Situation war allerdings widersprüchlich: Ihr Aufenthalt in Wien war zwar eine Verbannung, und doch handelte es sich hierbei nicht um Sibirien, Tekirdag1 oder Tomi. Sie befanden sich in der Nachbarschaft, von wo aus selbst die kleinste Regung zu vernehmen war. Kurz zuvor waren Österreich und Ungarn noch ein Land, und somit war das Terrain den Menschen auf vertraute Weise bekannt. Béla Balázs notiert 1914, als sich seine Ehefrau Edit Hajós ihm anzuschließen wünscht, in sein Tagebuch:.....ich betrete in Wien eine Sphäre, in die sie nicht hineingehört. Sie geht auf eine Zeit vor ihr zurück. Hunderterlei Vertrautheiten verbinden mich mit ihr...”2 Balázs und seine zweite Ehefrau, Anna Hamvassy, benutzten gerne den Ausdruck des „Untertauchens”3, doch für Béla Balázs war die Situation im Vergleich zu den anderen Emigranten noch in gesteigertem Maße „doppelbödig". Zum einen dachte er ständig an seine Heimat, seine Aktivitäten konzentrierte er in hohem Maße auf die ungarische Kultur, zum anderen begründete er hier in Wien seine Weltkarriere in deutscher Sprache. Die Kaiserstadt kennzeichneten 1920 Armut und Hunger. „In Wien war die Kost nach dem Ersten Weltkrieg für alle schlecht. Für uns Emigranten noch schlechter als für alle anderen. Unvergesslich bleibt das Essen der Garküche in der Kochgasse, das schlechter als Gefängniskost war” - erinnert sich József Lengyel.“1 Einige tausend neue Hungerleider mehr hatten der Stadt gerade noch gefehlt, und der Großteil der Neuankömmlinge mehrte nun einmal deren Zahl. ,Von den verschiedenen Mensen”, so József Nádass „erinnere ich mich an die Prodomos-Studentenspeisung. Mit einer unglaublich schlechten Kost ohne jeglichen Nährwert. Die fand in der einst bekannten Gaststätte Riedhof statt, in einem riesigen, langgestreckten Gebäude, mit jeweils einem Eingang in der Wickenburg- und der Schlössel- gasse. Hier sah ich mit düsteren Blicken György Lukács, Béla Balázs, Lajos Kassák und noch so viele andere bedeutende Revolutionäre an den ungehobelten Tischen sitzen, in einer Wolke aus ekelhaften Gerüchen, dem Gestank von fortgeworfenen Essensresten und ungespültem Geschirr.”5 Die geografische Absonderung der Emigranten bedeutete auch eine soziale Absonderung. Im besten Fall wohnten sie in angemieteten Zimmern, häufiger in Baracken, die Mehrzahl von ihnen war auf Hilfeleistungen angewiesen. „Die Baracke 43 war der Abgrund der Emigration...”6, erinnert sich Lengyel. Sie diente nicht nur als Schlafstätte, sondern auch als Schauplatz gesellschaftlichen Lebens, hier fanden Diskussionen umweltanschauliche und politische Fragen statt, doch auch um sehr viel banalere Dinge, wie etwa die Verteilung der Schlafplätze. Es gab solche, die eine würdigere Unterkunft hatten, bei Bekannten, in Ateliers, in einer Pension, manche sogar in einem Hotel. 141