Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 52. (2007)
TISCHER, Anuschka: Die Bellegarde-Akten im Historischen Staatsarchiv Lettlands in Riga: Quellen zur transnationalen Geschichte einer savoyisch-österreichischen Adelsfamilie und ihres Umfelds vom 15. bis zum 20. Jahrhundert
Anuschka Tischer Jahrtausends weit verzweigt, auch wenn ungewiss ist, ob sie alle auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen. Bellegarde fanden sich in Frankreich, Savoyen, Österreich, Schlesien, Bayern, Sachsen und Russland. In Kurland aber oder überhaupt im Baltikum war diese Familie nie beheimatet. Dies bestätigt auch ein Blick in die Bellegarde-Akten des Historischen Staatsarchivs Lettlands. Ein Bezug zu Kurland oder der weiteren Region findet sich dort nicht. Vielmehr handelt es sich bei dem Bestand um Archivalien zur Familiengeschichte jener Bellegarde, die im Mittelalter ursprünglich unter dem Namen Noyel, seit dem 16. Jahrhundert dann Noyel de Bellegarde, in Savoyen ihren Ursprung nahmen und, nach Intermezzi in Frankreich und Kursachsen, im 19. Jahrhundert schließlich als Grafen in verschiedenen Linien in Österreich ansässig waren. Durch Herrschaftserwerbungen und Erhebungen nannten sich Mitglieder der Familie im Laufe der Jahrhunderte auch Bellegarde de Mons, de(s) Marches, de St. Romain oder d’Entremont (Antremont), aber Bellegarde blieb dabei seit dem 16. Jahrhundert der Stammname, während der ursprüngliche Name Noyel völlig verschwand. Am Ende des Zweiten Weltkriegs waren diese Bellegarde im Mannesstamm erloschen, die letzten Trägerinnen des Namens flüchteten aus Schlesien zu Verwandten nach Bayern. Die bekanntesten Mitglieder dieser Familie waren in der 2. Hälfte des 18. bzw. zu Beginn des 19. Jahrhunderts der kursächsische Kriegsminister Johann Franz von Bellegarde und sein Sohn Heinrich, Präsident des österreichischen Hofkriegsrates.3 Uber Jahrhunderte hinweg war das Schicksal der Familie Bellegarde eng mit der Entwicklung verschiedener europäischer Länder verknüpft, und die Bellegarde- Akten im Historischen Staatsarchiv Lettlands sind eine Quelle zur Geschichte Savoyens, Frankreichs, des Heiligen Römischen Reichs und verschiedener deutscher Territorien, Österreichs und dem österreichischen (heute tschechischen) Teil Schlesiens. Dabei würde niemand einen solchen Bestand an dieser Stelle suchen oder vermuten, während er umgekehrt keine Auskunft bietet zur lettischen, kurländischen oder livländischen Geschichte. Die Stücke in den 80 Akten der Familie Bellegarde beziehen sich auf einen Zeitraum von fast einem halben Jahrtausend, nämlich von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis 1936, wobei das älteste Original auf das Jahr 1477 datiert ist, eine Urkunde Herzogin Yolandes von Savoyen für Antoine Noyel.4 Jüngstes Stück ist eine anonyme handschriftliche Sammlung von Beiträgen zur Geschichte des bei Troppau (Opava) gelegenen schlesischen Gutes Groß-Herrlitz (Velké Heraltice) von 1936.5 Ein Großteil der Akten hat familiengeschichtlichen Charakter: Patente und Privilegien, Eheverträge, Tauf- und Trauscheine, Familientestamente und 3 Österreichisches Biographisches Lexikon 1 8 1 5-1 950. Hrsg, von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften unter Leitung von Leo Santifaller, bearb. durch Eva Obermayer-Mamach, Bd. 1, Graz/Köln 1957, S. 66 f; Artikel von Oskar Regele in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 2, Berlin 1955, S. 29 f. 4 LVVA 1 100, ap. 14, lieta 53. Frühere Urkunden in lieta 51 sind Abschriften. 5 LVVA 1 100, ap. 14, lieta 114. 318