Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 48. (2000)
RAUSCHER, Peter – STAUDINGER, Barbara: Der Staat in der frühen Neuzeit. Überlegungen und Fragen zu aktuellen Neuerscheinungen der deutschen Geschichtswissenschaften
setzt werden konnten.28 29 30 Wie Schmidt zu der Auffassung gelangt, dass sogar „der naturrechtliche Gedanke, dass die Gewalt vom Volk ausgeht, in Deutschland [!] nicht nur zu einer verbreiteten Wertvorstellung, sondern zum Bestandteil der Reichsverfassung“ (S. 242) wurde, bleibt hingegen völlig unklar. Insgesamt gilt für den Freiheitsbegriff ebenso wie für den Staats- und den Nati- onsbegrifP: Der prinzipielle Unterschied zwischen den frühneuzeitlichen Ständestaaten und modemen Demokratien westlichen Zuschnitts erlaubt Parallelen nur um den Preis vieler Kautelen — und vieler unnötiger Mißverständnisse.30 Obwohl Schmidt den Begriff „Nation“ definieren will, verwendet er ihn in Folge äußerst unpräzis und suggestiv, wohl vor allem deshalb, weil zeitgenössische Nationsbegriffe unterschiedlicher Konnotierung mit einem modernen Nationsbegriff vermischt werden und dadurch ein Bild der „deutschen Nation“ vermittelt wird, das Schmidt unter Umständen so gar nicht zeichnen wollte. Wie bereits erwähnt, wurden „Nation“ und „nationale Identität“ nicht nur in der Geschichtswissenschaft in den verschiedensten Kontexten verwendet. Sie sind ideologisch überfrachtete und gleichzeitig bedeutungsarme Begriffe geworden.31 Reinhard widmet den grundsätzlichen Überlegungen zu „Nation“ im Vergleich zu Schmidt breiteren Raum. Überzeugend stellt er für das Verhältnis von Staat und Nation fest, daß Nationen nur mit realem oder imaginiertem Bezug auf eine Staatsgewalt existierten. Die Nation war die abhängige, die Staatsgewalt aber die unabhängige Variable der historischen Entwicklung. Aber ,Nation* war etwas anderes, aus heutiger Sicht unvollkommenes, solange die werdende Staatsgewalt etwas anderes, aus heutiger Sicht ebenfalls unvollkommenes, war. Die Behauptung, es könne vor der Französischen Revolution keine Nationen und keinen Nationalismus gegeben haben, ist deswegen genauso richtig oder falsch wie die entgegengesetzte Feststellung, es gebe Nationen oder Nationalismus bereits im Mittelalter. Nationen im modemen Sinn kann es nämlich in der Tat erst mit ausgereifter Staatlichkeit geben. Nationen, die dem jeweiligen Entwicklungsstand der Staatsgewalt entsprachen, gibt es aber seit deren Anfängen. (S. 443). Damit wird die Frage, ob es im frühneuzeitlichen Reich eine deutsche Nation gab, in einem gewissen Maß zur Scheindebatte. Im Reich, das, egal wie man dessen staatliche Züge im Einzelfall beschreiben will, die Entwicklung zum modemen Staat nicht vollzog, kam auch eine deutsche Nationsbildung nicht zu Stande. Im Gegensatz zu Reinhard und Schmidt geht Schilling nur am Rande und im Zusammenhang der einzelnen Länder auf Nationsbildung ein, er versäumt aber dabei 28 Vgl. Rauscher, Peter: Recht und Politik. Reichsjustiz und oberstrichterliches Amt des Kaisers im Spannungsfeld des preußisch-österreichischen Dualismus (1740-1785). In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 46 (1998), S. 269-309, dort mit weiterer Literatur. 29 Das Gleiche gilt für den Begriff der Menschenrechte. Vgl. Schmidt: Geschichte, S. 237-242. Reinhard: Geschichte, S. 291. 30 Münch, Paul: 1648 - Notwendige Nachfragen. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1/1999, S. 329-333, hier S. 332. 31 Vgl. Reinhard: Geschichte, S. 440. Zum Nationsbegriff im europäischen Kontext vgl. auch Schulze: Staat, S. 108-208, zu den Begriffen „Staatsnation“ und „Kultumation“ S. 126-150. 417 Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 48/2000 - Rezensionen