Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 48. (2000)

RAUSCHER, Peter – STAUDINGER, Barbara: Der Staat in der frühen Neuzeit. Überlegungen und Fragen zu aktuellen Neuerscheinungen der deutschen Geschichtswissenschaften

Die beiden Sphären - der Staat als Herrschaftsordnung, die Nation als Werte- und Zugehörigkeitsgemeinschaft - lassen sich kaum trennen. Gesicherte Besitzrechte oder nach 1648 die Gewissensfreiheit waren im Alten Reich keine bloßen Wertvorstellun­gen, sondern auch für den gemeinen Mann einklagbare Normen. (S. 350).25 Das Reich - ein „Rechtsstaat“ mit nationalen Werten und Normen? Auch hier gilt es zu differenzieren und die Begrifflichkeit vorsichtig abzuwägen. Die Über­tragung des frühneuzeitlichen Freiheitsbegriffs ins gegenwärtige Deutsch ist höchst problematisch, da „Freiheit“ in der Regel nicht (moderne) individuelle Freiheit, sondern ständische Rechte oder besondere Privilegien eines Einzelnen oder einer Korporation meinte.26 Weder waren die „Freiheiten“ der Stände noch die von Indi­viduen gleich. In diesem Sinn kann der frühneuzeitliche Freiheitsbegriff auch nicht zu einer „teutschen Freiheit“ verallgemeinert werden. „Teutsche Freiheit“ meinte im Prinzip die Rechte der Reichsstände bzw. die (verfassungs-)gemäße Ordnung des Gemeinwesens. In diesem Sinn existierten zum Beispiel auch die Freiheiten der Böhmischen Krone. Dieser Freiheitsbegriff hat nichts mit einem freien Eigentum der Untertanen zu tun, weshalb eben nicht einfach geschlossen werden kann, daß die alte Wertvorstellung .deutsche Freiheit* nicht nur in Gestalt verbriefter reichsständischer Rechte, sondern auch im überständischen Sinn 1648 eine normative Basis bekam. (Schmidt, S. 183). Von einer allgemeinen Gewissensfreiheit der Untertanen kann auch für die Zeit nach dem Westfalischen Frieden nicht gesprochen werden, da sie - wie Paul Münch jüngst wieder völlig zu Recht betont hat - auf die drei anerkannten Konfes­sionen beschränkt blieb, während andere Glaubensrichtungen weiterhin ausge­schlossen wurden. Ähnlich problematisch ist die Bewertung der Prozesse von Un­tertanen gegen ihre Landesherrschaft. Auch wenn hier in oft jahrzehntelangen Ver­fahren, die meist ohne Endurteile abgeschlossen wurden, gewisse Erfolge der Un­tertanen verzeichnet werden konnten, ist doch nicht zu verkennen, dass dies vor allem kleinere Obrigkeiten betraf.27 Ganz zu schweigen von den zahlreichen Ap­pellationsprivilegien, die den Untertanen prinzipiell die Anrufung eines Reichsge­richts erschwerten, ist davon auszugehen, dass praktisch keine Urteile gegen die mächtigen Reichsstände und damit die „entwickeltsten Territorialstaaten“ durchge­25 Vgl. besonders Schmidt: Geschichte, S. 92-99. 26 Vgl. Das Privileg im europäischen Vergleich, hrsg. von Barbara Dölemeyer und Heinz Mohn­haupt. Bd. 1. Frankfurt/M. 1997 (Ius Commune. Veröffentlichungen des Max-Planck-lnstituts für Europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main. Sonderhefte. Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 93); Bd. 2. Frankfurt/M. 1999 (Jus Commune 125). Reinhard: Geschichte, S. 291. 27 Vgl. dazu Sailer, Rita: Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht. Rechtsschutz gegen die Obrigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Köln-Weimar-Wien 1999 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich. Bd. 33), S. 18, die sich in ihrer Quel­lenauswahl allerdings auf den südwestdeutschen Raum konzentriert hat. 416 Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 48/2000 - Rezensionen

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