Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 48. (2000)

RAUSCHER, Peter – STAUDINGER, Barbara: Der Staat in der frühen Neuzeit. Überlegungen und Fragen zu aktuellen Neuerscheinungen der deutschen Geschichtswissenschaften

Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 48/2000 - Rezensionen Das Reich als Staat? Während Reinhard und Schilling das Wachstum der Staatsgewalt und damit die zunehmende Verstaatlichung der europäischen Gesellschaften untersuchen, geht es Schmidt offenbar um etwas völlig anderes. Er will die „Geschichte deutscher Ge­samtstaatlichkeit“, die er mit dem Reichstag von Worms 1495 beginnen lässt, schreiben. Diese deutsche Gesamtstaatlichkeit spielte sich nach Schmidt im Rahmen des Heiligen Römischen Reichs (Deutscher Nation) ab, das als „Reichs-Staat“ bezeich­net wird und das politische Ordnungssystem dargestellt habe, das zwischen 1500 und 1 800 der vor allem auf Sprache, Kultur und Abstammung ba­sierenden Gemeinschaft der Deutschen den Rückhalt gab, um eine nationale Identität auszubilden (S. 349). Der „Reichs-Staat“ ist damit grosso modo mit einem deutschsprachigen, auf den Reichstagen vertretenen Teil des Heiligen Römischen Reichs (unter Ausschluss Reichsitaliens7 8), und damit praktisch der erste deutsche Gesamtstaat. In der neueren Forschung wurde bisher meist davon ausgegangen, dass die frühmodeme Staatsbildung, die in den meisten europäischen Länder National­staatsbildung, in Deutschland dagegen Territorialstaatsbildung unter dem Dach eines vorstaatlichen Reiches war.8 Schmidts Theorie versucht hingegen den „Territorialstaat“ mit dem „Reichs- Staat“ zu verbinden: Staatsbildung ist kein Null-Summen-Spiel, etwa nach der Vorstellung, was der Ter­ritorialstaat gewinnt, büßt das Reich zwangsläufig ein. Die hier vertretene Modellvor­stellung sieht daher im politischen System von Kaiser und Reichsständen einen in sei­ner Zusammensetzung variierenden Reichs-Staat, ohne den Territorien, Herrschaften und Städten oder den Reichskreisen und einigen Bünden staatliche Züge abzusprechen. Insbesondere der Fürstenstaat als Erbe der mittelalterlichen Reichsfürstentümer ist eine historisch selbstständige Erscheinung, die eigene Traditionen verkörpert, gleichwohl aber in den Reichs-Staat eingebunden bleibt. Um das komplizierte Verfassungsgefüge begrifflich zu fassen, wird hier vom ,System komplementärer Staatlichkeit* bzw. vom, komplementären Reichs-Staat* gesprochen [...] (S 43 f.). Die Debatte um eine angemessene Beschreibung der politischen Struktur des Reichs ist nicht neu. Sie reicht im Prinzip auf den Beginn der frühneuzeitlichen politischen Theorie, die für das Reich unter der Bezeichnung „Reichspublizistik“ 7 Schmidt lässt offen, was genau er von den nicht deutschsprachigen Randgebieten des Reichs zum Reich zählen will: „[...] es bleiben Zonen für die dies [= die Übereinstimmung von Reichs-Staat und deutscher Nation] nicht gilt oder zweifelhaft ist: Savoyen, Lothringen, Böhmen und seine Nebenländer, Burgund sowie die südlichen Randgebiete des österreichischen Reichskreises. Mit Ausnahme der letzteren sind dies jedoch Gebiete, die keineswegs permanent dem politischen Sy­stem des engeren Reichs zugeordnet werden können.“ Wie Schmidt weiter ausführt, gilt dies al­lerdings zunächst auch für ganz Niederdeutschland nicht (Schmidt: Geschichte, S. 40-44, Zitat S. 42). Vgl. auch ebenda, S. 11-13. 8 Schilling: Aufbruch und Krise, S. 11. Vgl. auch Duchhardt, Heinz: Deutsche Verfassungs­geschichte 1495-1806. Stuttgart-Berlin-Köln 1991, S. 180. Press, Volker: Kriege und Krisen. Deutschland 1600-1715. München 1991 (Neue Deutsche Geschichte. Bd. 5), S. 80-83. 408

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