Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 48. (2000)
GRÖBL, Lydia – HÖDL, Sabine – STAUDINGER, Barbara: Steuern, Privilegien und Konflikte. Rechtsstellung und Handlungsspielräume der Wiener Juden von 1620 bis 1640. Quellen zur jüdischen Geschichte aus den Beständen des Österreichischen Staatsarchivs
auch bewilligte.137 Es existieren keine Dokumente, die auf eine Verpflichtung zum Aufbau einer Mauer hinweisen, wie im Übrigen auch der Begriff „Ghetto“ nie aufscheint. Trotzdem ist die neue jüdische Siedlung im Unteren Werd eindeutig als Ghetto zu werten.138 Im Sommer 1625 fand der endgültige Abzug der Juden in das Ghetto statt.139 Zu einem Abschluss der Übersiedlung kam es allerdings erst mit dem Erlass, dass die Stadt Wien weiteren Platz im Unteren Werd zur Verfügung stellen sollte, da sich die 14 Häuser und Gärten als zu klein und ungenügend für die Juden herausgestellt hatten.140 Die Stadt Wien hatte mit der Umsiedlung der Juden in den Unteren Werd zumindest teilweise ihr Ziel erreicht, die Juden aus der Stadt zu weisen; sie verlor damit jedoch Mitspracherechte. Der Kaiser, der mit diesem Umzug als klar deklarierter Schutzherr auftrat, erreichte mit diesem Schritt, dass er die Wünsche der Stadt berücksichtigte und weitere Probleme durch einen Verbleib der Juden direkt in der Stadt verhinderte. Trotzdem verlor er den Zugriff auf die Finanzkraft der Juden nicht. Es gibt Hinweise darauf, dass auch die Juden mit dieser Entscheidung nicht unzufrieden waren,141 da sie damit den dauernden Anfeindungen entzogen wurden 137 Intimation im Auftrag des Kaisers an den Magistrat von Wien, 12. Februar 1625, in Pribram: Urkunden (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 91 f., Nr. 54. 138 Encyclopaedia Judaica, Bd. 7. Jerusalem o. J., Sp. 542: „GHETTO, urban section serving as compulsory residential quarter for Jews. Generally surrounded by a wall shutting it off from the rest of the city, except for one or more gates, the ghetto remained bolted at night. [...] It [der Begriff] was probably first used to describe a quarter of Venice situated near a foundry (gettó or ghetto) and which in 1516 was enclosed by walls and gates and declared to be the only part of the city open to Jewish settlement. Subsequently the term was extended to all Jewish quarters of the same type.“ Wer auf die Idee gekommen war, ein Ghetto in Wien einzurichten, ist nicht bekannt. In der Literatur wird die Vermutung geäußert, dass der Beichtvater des Kaisers, Pater Wilhelm Germain Lamormain, diese Einrichtung in Rom gesehen hatte und diese Idee nun nach Wien übertrug. Quellen zur Absicherung dieser Vermutung liegen nicht vor. Vgl. Kaufmann: Vertreibung (wie Anm. 1), S. 4. Rotter, Hans - Schmieger, Adolf: Das Ghetto in der Wiener Leopoldstadt. Wien 1926 (Libri patriae 1), S. 29 übernahmen diese Vermutung von Kaufmann. Schwarz: Geschichte (wie Anm. 1), S. 58, konnte keinen Beweis für ein Mitwirken des Beichtvaters Lamormain entdecken. 139 Intimation im Auftrag des Kaisers an den Grafen Collalto, 16. Juli 1625, in Pribram : Urkunden (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 97 f., Nr. 59. 140 Intimation im Auftrag des Kaisers an den Magistrat von Wien, 5. August 1625, in Pribram: Urkunden (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 98 f., Nr. 60. Zu den Ereignissen im Zuge der Übersiedlung siehe auch Kaufmann: Vertreibung (wie Anm. 1), S. 6-10. 141 Der damalige Rabbiner der Wiener Gemeinde, Jomtow Lippman Heller, äußerte sich dazu in seiner Selbstbiographie folgendermaßen: „Denn früher wohnten die dortigen Juden zerstreut in allen Straßen; nun aber hatte der Kaiser unser Herr ihnen einen besonderen Ort angewiesen, und ihnen eine prächtige Synagoge und andere Häuser für Gemeindezwecke zu erbauen gestattet.“ Lippmann Heller, Jomtow: Me'gilath ebah (Selbstbiographie und das Erlebte, namentlich über seine Gefangenschaft und die erlittenen Verfolgungen) in der Ausgabe: R. Jomtob Lippmann Hellers (Tosphoth Jomtob) Selbstbiographie. Geschichte der erlittenen Verfolgungen und Gefan174 Lydia Gröbl - Sabine Hödl - Barbara Staudinger