Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 47. (1999)

STÖGMANN, Arthur: Die Erschließung von Prozeßakten des Reichshofrats im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien. Ein Projektzwischenbericht

Arthur Stögmann Nimmt man den wesentlich größeren geographischen Raum, in dem der Reichs­hofrat seine Tätigkeit entfaltete14, noch hinzu, so ist dessen bisherige Vernachlässi­gung durch die Forschung umso weniger zu rechtfertigen. Es droht eine Verzerrung der historischen Gesamtperspektive, wenn das bisherige Mißverhältnis in der Er­forschung der beiden Reichsinstitutionen nicht zumindest verringert wird. Dies gilt auch deshalb, weil zahlreiche Beziehungen zwischen beiden Reichsgerichten etwa in personeller Hinsicht bestanden. Zudem klärt sich die Inanspruchnahme des einen Gerichts durch Reichsstände, Reichsstädte und Einzelpersonen erst im Vergleich mit der zeitgleichen Inanspruchnahme des anderen und läßt so - infolge der ständi­gen Konkurrenz zwischen beiden Gerichten - auch Rückschlüsse auf das jeweilige Kräfteverhältnis zwischen Kaiser und Reich zu.15 Die Erforschung der Prozeßakten des Reichshofrats, die ca. 10 000 archivalische Einheiten mit insgesamt etwa 70 000 Einzelfallen16 umfassen, weist bis heute einen so enormen Rückstand auf, daß viele Aspekte seiner Tätigkeit, ganz zu schweigen von der unüberschaubaren Masse der von dieser berührten und betroffenen Stände, Länder, Städte, Gemeinden, kirchlichen Einrichtungen und Einzelpersonen nach wie vor weitgehend unbekannt sind.17 Dabei ist die Gesamtheit des überlieferten Materials von großem historischen Interesse, bietet es doch nicht bloß Informationen zum jeweiligen Prozeßverlauf, dem angewandten Prozeßrecht, etc., also rechtshistorischen Fragestellungen im engeren Sinn, sondern auch zu weitergehenden historischen Fragestellungen, wie dem sozialen Umfeld, den kulturellen Haltungen und Interessen sowie den wirt­schaftlichen Verhältnissen der an den Prozessen beteiligten Personen. mar von: Das Alte Reich (1648-1806). Bd. 1: Föderalistische oder hierarchische Ordnung (1648- 1684). Stuttgart 1993, S. 86. 14 Der von der Tätigkeit des RHR berührte Raum umfaßt sechzehn Staaten des heutigen Europa (darunter Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Niederlande, Österreich, Polen und Tsche­chien). Darüber hinaus stellen Bestände wie die italienischen Reichslehensakten oder die Prozeß­akten der Hansestädte Beziehungen zur Geschichte Spaniens, Englands, des Ostseeraums und Rußlands her. Auer, Leopold: Such- und Erschließungsstrategien für die Prozeßakten des Reichshofrats, ln : Sellert, Wolfgang (Hrsg ): Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Kon­kurrenzverhältnis. Köln-Wien 1999 (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 34), S. 211-219, hier S. 211. 15 Scheurmann, Ingrid - Diestelkamp, Bernhard: Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte. In: Friedenssicherung und Rechtsgewährung. Sechs Beiträge zur Geschichte des Reichskammerge­richts und der obersten Gerichtsbarkeit im alten Europa. Bonn-Wetzlar 1997, S. 7-13, hier S. 9. Siehe auch: Diestelkamp, Bernhard: Tendenzen und Perspektiven in der Erforschung und Ge­schichte des Reichskammergerichts, ln: Frieden durch Recht, S. 453-456, bes. S. 454. 16 Nach einer zurückhaltenden Schätzung handelt es sich um 50 000 Fälle. Auer, Leopold: Das Archiv des Reichshofrats und seine Bedeutung für die historische Forschung. In: Friedenssiche­rung und Rechtsgewährung, S. 117-130, hier S. 118. 17 Ebenda, S. 120. Bis zu den grundlegenden Arbeiten Selleris galt das reichshofrätliche Verfah­ren noch als weitgehend unerforscht. Sellert: Prozeßgrundsätze, S. 39. 252

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