Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 46. (1998)
EMINGER, Stefan: Gewerblicher Mittelstand in Österreich Zur Zeit der großen Depression. Organisation, Interessenpolitik und politische Mobilität im Gewerbe 1930–1938
Stefan Eminger eher Arbeitgeberverbände96. Deren Konzept beinhaltete sehr weitgehende Kompetenzeinschränkungen der Handelskammern - bzw. wurde deren Weiterbestand überhaupt in Frage gestellt-und sah mit der Trennung von „politischer“ und „berufsständischer“ Vertretung des Gewerbes die Schaffung zweier Monopolverbände vor. Die gewerbliche Arbeitnehmerschaft fand dabei keine Berücksichtigung.97 Die praktische Umsetzung des Aufbaus der „berufsständischen“ Gewerbeorganisation erfolgte vielfach gegen die Vorstellungen der davon betroffenen Genossenschaften, auf deren spezielle Befragung vorsichtshalber auch verzichtet wurde98. Der letztlich realisierte Entwurf einer neuen Zunftordnung war derart unpopulär, daß die für die Ausarbeitung verantwortlichen Sekretäre, Ernst Stadler vom HVGVÖ und Anton Widmann vom Österreichischen Gewerbebund [ÖGWB], darauf bestanden, daß man sich bei der Kundmachung dieser Neuorganisation der Gewerbe weder auf ihre Person noch auf ihre dienstgebenden Körperschaften berufe.99 Die Proteste zahlreicher Genossenschaftsvertreter richteten sich dann insbesondere gegen den pro- nonciert zentralistischen Aufbau der neuen Gewerbevertretung sowie gegen die Zusammenlegung fachlich ähnlicher Gewerbezweige, was zumeist als erzwungener Rückschritt in der Entwicklung der jeweiligen Branche interpretiert wurde.100 Als neue „berufsständische“ Vertretung trat der „Bund der österreichischen Gewerbetreibenden“ an die Stelle der bislang bestehenden Genossenschaften. Er war in fachlicher Hinsicht auf Bundesebene in 47 Innungen und auf Länderebene wiederum in je 47 Zünfte gegliedert.101 Bedingt durch die zentralistische Ausrichtung, hatte der Aufbau des „Bundes der österreichischen Gewerbetreibenden“ auch die Errichtung eines enormen bürokratischen Apparates notwendig gemacht, wodurch die Ver- bandstäügkeit nunmehr überwiegend in den Händen beamteter Sekretäre lag. Die Stellung der Handelskammern im berufsständischen Neuaufbau war Gegenstand langwieriger Auseinandersetzungen, die erst mit der Verabschiedung des Kammergesetzes Mitte 1937 beendet wurden. Der Konflikt wurde insbesondere von seiten des Reichsgewerbebundes bzw. von dessen Nachfolgeorganisation, dem ÖGWB, stark emotionalisiert. Die Angriffe auf die Handelskammern trugen nicht 96 Die Hauptstelle gewerblicher Arbeitgeberverbände hatte ihren Sitz in Wien und wirkte als sozialpolitische Interessenvertretung gewerblicher Betriebe. Zur Geschichte der Hauptstelle siehe Geißler, Johann: Fünf Jahre Hauptstelle gewerblicher Arbeitgeberverbände. Ein Rück- und Ausblick. In: Hauptstelle gewerblicher Arbeitgeberverbände. 1925-1930. Wien 1930, S. 5-10. 97 AdR, BMfHuV/allg., Sign. 501, GZ 130.538/1934, Kt. 2665, Aufbau der Berufsstände; Organisationsentwurf. 98 AdR, BMfHuV/allg., Sign. 507, GZ 122.786/1935, Kt. 2747, Neuorganisation des Gewerbes; Zunftord- nung. 99 Ebenda. 00 WKW, Registratur, Paket 2627/4, Schreiben der Kammer für Handel, Gewerbe und Industrie in Innsbruck an Dr. Wilhelm Becker vom 6. 5. 1935; Stimmen der Wirtschaft 1 (Dezember 1936), S. 5. 01 BGBl. Nr. 84/12. 3. 1935, Errichtung des Bundes der Gewerbetreibenden; BGBl. Nr. 229/17. 6. 1935, 2. Durchführungsverordnung zum Gewerbebundgesetz (Zunftordnung); Jahrbuch des österreichischen Gewerbebundes 1937. 2. Jg. Wien [1936], S. 128-139. 14