Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 45. (1997)

FLÖTER, Jonas: „Wenn wir ihn stürzen können, so sollten wir es je eher je lieber thun, …“ Zum Verhältnis Bismarcks und des preußischen Gesandten in Wien zur ministeriellen Krise in Cisleithanien und zu Beusts Sturz (1869–1871)

Jonas Flöter Kampagne gegen die Person Beusts und dessen „Unterwerfung“58 unter die Bis- marcksche Neugestaltung Deutschlands ließen seinen Sturz als nicht mehr notwen­dig erscheinen. Im Gegenteil: Die anscheinend bevorstehende Reichskanzlerschaft Andrássys konnte für Bismarck nicht nur aufgrund der gestiegenen Bedeutung der konservativen Solidarität der drei Ostmächte unerwünscht sein, vielmehr stand zu dieser Zeit die durch Rußland einseitig gekündigte Pontusklausel59 und das in Berlin hinreichend bekannte Verhältnis Andrássys zu Rußland im Vordergrund. Die Pontus-Frage habe, so Schweinitz, die Stellung des Reichskanzlers wieder ge­stärkt und Andrássy dazu veranlaßt, seine Angriffe gegen Beust einzustellen. Insbe­sondere die cisleithanische Delegation wolle um jeden Preis vermeiden, daß sich aus der Pontus Frage ein Krieg entwickle. Sie sehe dafür in Beust den Garanten, der es geschickt verstanden habe, die Ausweitung der Kriegsgefahr durch eine Reichskanz­lerschaft Andrássys darzustellen. Überdies sähen die Deutsch-Liberalen in rieust den Schirmherrn vor allen Übeln; „das einemal erscheint dieses Uebel als Herrschaft der Clerikalen, das andere Mal als Einfluß der Hofpartei mit Einschreiten für Frank­reich, ein drittes Mal als Hegemonie der Magyaren und Krieg gegen Rußland.“60 Aus Gründen des preußischen Staatsinteresses und im Interesse der Aufrechterhaltung der preußisch-russischen Zusammenarbeit war es von größter Bedeutung, einer et­waigen Zuspitzung der orientalischen Frage um jeden Preis entgegenzuwirken. Somit sollte sich Beust gegen Ende des Jahres 1870 nicht nur für die Liberalen in Österreich als Konsensfigur darstellen, sondern auch als Garant für die Sicherung des neugeschaffenen deutschen staatlichen Gebildes. Diese Bedeutung kristallisierte sich insbesondere gegenüber den Deutsch- Österreichern bereits im Dezember 1870 heraus, als Schweinitz über Sympathie­kundgebungen für beide Kriegsparteien berichtete. Die studentische Jugend sei von Anfang an auf deutscher Seite gewesen, allerdings in ein schwarz-rot-goldenes und ein schwarz-weiß-rotes Lager gespalten. Dies zeigte sich bei der Gründung des Er­sten Akademischen Lesevereins, bei der sich der Redner des schwarz-weiß-roten Lagers, Dr. Höslinger, für die Wiedergewinnung Elsaß-Lothringens und die Anglie­derung der deutschen Provinzen Österreichs an das Deutsche Reich aussprach. Doch beim Hoch auf schwarz-weiß-rot kam es von Seiten des schwarz-rot-goldenen Lagers zu Tumulten. Solche Tendenzen, so Schweinitz, hätten jetzt eine höhere Bedeutung als früher, da die „deutsche Volkspartei“, wie er den linken Flügel der Verfassungs­partei bezeichnte, offen für die Eingliederung der deutschen Provinzen Österreichs in das Deutsche Reich einträte. Darüber hinaus berichtete Schweinitz über Sympa­thiebekundungen der Arbeiter für die französische Republik und für deren Anerken­nung durch Österreich-Ungarn61. 58 S c h w e i n i t z: Denkwürdigkeiten. Bd. 1, S. 281. 59 Diese Bestimmung im Pariser Friedensvertrag von 1856 beschränkte fiir Rußland und das Osmanische Reich die Flottenrüstungen auf dem Schwarzen Meer und verbot beiden Mächten den Bau von Küstenbe­festigungen. 60 Pol. Arch. A. A Bonn, R 8459 (Schweinitz an Bismarck, 5. Dezember 1870). 61 Ebenda (Schweinitz an Bismarck, 6. Dezember 1870). 260

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