Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 43. (1993) - Festschrift für Rudolf Neck zum 65. Geburtstag
BROUCEK, Peter: Über den Schriftennachlaß des Feldmarschalls Franz Conrad von Hötzendorf im Kriegsarchiv
Peter Broucek Seine oberste Forderung galt jedenfalls einer Verbindung von Diplomatie und Kriegsvorbereitung und im militärischen Bereich einer Aufrüstung. Was seine Kompetenzen betraf, so erreichte er Wesentliches. Schon 1907 wurde ihm in den Organischen Bestimmungen die Fühlungnahme mit dem Marinekommandanten, der Verkehr mit den Landesverteidigungsministerien sowie der direkte Schriftverkehr mit den Militärattachös erlaubt. Ab 1909 konnte er direkte Beziehungen zum Generalstabschef des wichtigsten Dreibundpartners des Deutschen Reiches pflegen. Ab diesem Jahr war ihm auch der direkte schriftliche Verkehr mit dem k.u.k. Minister des Äußern erlaubt. Ab 1911 konnte General Conrad fallweise dem Gemeinsamen Ministerrat beigezogen werden. Und laut den Organischen Bestimmungen für den Generalstab von 1913 wurde der „Chef‘ des Generalstabes „persönlich unter den unmittelbaren Befehl Seiner... Majestät“ gestellt, und er wurde ermächtigt, beim Kaiser direkt mündlich und schriftlich Vortrag zu erstatten, also dies nicht mehr im Wege des Kriegsministers zu tun. Damit war die Immediatstellung aber auch die Hauptverantwortlichkeit im militärischen Bereich für den Fall einer Kriegführung erreicht. Im Juli 1914 hatte Conrad Gelegenheit, sich für einen Krieg auszusprechen. Er war eher neben als unter dem Armeekommandanten Feldmarschall Erzherzog Friedrich für Planung und Durchführung der Operationen auf den Kriegsschauplätzen bis Herbst 1916 verantwortlich (der Balkan bleibt davon bis Ende 1914 ausgenommen). Conrad hatte wesentlichen Einfluß auf die Formulierung von Kriegszielen. Er hatte den militärdiplomatischen Verkehr zu den Verbündeten unter Kontrolle und empfand die Einrichtung einer „Obersten Kriegsleitung“ nach dem Desaster der Brussilow-Offensive, die seine Kompetenzen einschränkte, schwer. Kaiser Karl nahm eine günstige Gelegenheit wahr, um Conrad im Frühjahr 1917 abzulösen. Er schickte Conrad als Heeresgruppenkommandant nach Tirol, wo er bis zur Niederlage in der Piaveschlacht einen wichtigen Teil der k.u.k. bewaffneten Macht führte. Für jene Niederlage machte der Kaiser Conrad in erster Linie verantwortlich und schob ihn auf ein Ehrenamt ab, das der tief gekränkte Feldmarschall aber vor dem Zusammenbruch nicht mehr antrat. Es versteht sich, daß das Kriegsarchiv ab 1918 vieles unternahm, um das Schriftgut, das Feldmarschall Conrad und seine engsten Mitarbeiter 1906 bis 1917 hinterlassen oder gar zu verschiedenen Zeiten mit sich genommen hatten, zu archivieren, sicherzustellen, aber auch bezüglich einer Herausgabe, die ja so bald nach dem Kriegsende einen eminent politischen Charakter haben mußte, zu prüfen. Als die Staatskanzlei der 160