Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 41. (1990)
HEPPNER, Harald: Serbien im Jahre 1889 nach einem Bericht Ludwig von Thallóczy's
Serbien im Jahre 1889 von dem man soviel hört, machte auf mich absolute nicht den Eindruck eines hervorragenden Mannes. Seine Freunde sagen, er hat Glück, viel moralischen Muth, eine gute Feder und eine Rednergabe. Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich ihn nur für einen geschickten Faiseur halte. Herr Gersic50), Justizminister, ist ein talentirter Redner, ein guter Jurist, aber ein leichtsinniger, verschuldeter Mann. Der Cultusminister Milosavljevic51), Professor der Naturlehre, taugt nicht einmal in Serbien zum Minister. Es wäre schade, den Herr Professor näher zu charakterisiren. Herr Vuic52), der Finanzminister, war auch Professor. Er hat viel natio- naloeconomische Kenntnisse, auf die er ausnehmend stolz ist. Scheint ein noch nicht ausgegohr[e]ner Herr zu sein, voll von Theorien und keiner praktischen Bildung. Er schuf sich eine kleine Garde von Anbetern und hat ein „Geheimnis“: Er will die serbische Eisenbahn verkaufen und die Staatsschuld convertiren53). Die übrigen Herren kommen weniger in Betracht. Der bedeutendste Beamte ist Herr Ghiaja, Sectionschef im Ministerium des Äussern. Gewesener Professor und ragusaner Katholik. Er ist der Schlaueste und weitaus Hellsehendste. König Milan54) verzieh allen Radikalen, nur Ghiaja wollte er nie sehen, da er nie glauben konnte, dass ein gebildeter Mann sich zu diesen politischen Bildstürmern hergeben kann. Ghiaja hat die Fäden der serbischen Agitation in Süddalmazien, Südungarn und Makedonien in der Hand. Bei dieser Gelegenheit muss ich auf einen jetzt noch unansehnlichen, aber dennoch wichtigen Umstand aufmerksam machen. Ghiaja und einige Serben arbeiten dahin, dass das serbische Element nicht nur die Orthodoxie umfassen soll, sondern dass die Südslaven als Serben griechischen und katholischen Ritus’ gelten müssen55). Es erscheinen schon in diesem Sinne in dalmatinischen Zeitungen Artikel, in Croatien selbst ist einer Annäherung der Weg 50) Glisa Gersic (1842-1918), Politiker und Journalist, 1888-1892 Justizminister, einer der Gründer der Radikalen Volkspartei. 51) Svetozar Milosavljevic (1845-1921), 1887-1909 Minister diverser Ressorts, 1889- 1890 Unterrichtsminister, Angehöriger der Radikalen Volkspartei. 52) Mihailo Vujic (1853-1913), Nationalökonom, Politiker 1887-1902 Minister in diversen Ressorts, 1889-1890 Finanzminister, Angehöriger der Radikalen Volkspartei. 53) Diese Bemerkung bezieht sich auf das Dilemma der serbischen Regierung, die sich einerseits darum bemühen mußte, die hohe Staatsverschuldung einzudämmen, anderseits per Dekret vom 20. Mai 1889 der französischen Gesellschaft die Betriebsrechte über die serbischen Eisenbahnen wegen Streitigkeiten entzog. Dazu Zivanovic Politicka istorija 3(1924) 26ff., Jovanovic Vlada Aleksandra Obrenoviéa 63. 54) Milan Obrenovic (1854-1901), 1868-1882 serbischer Fürst, 1882-1889 König. 55) Zur großserbischen Idee siehe Wolf Dietrich Behschnitt Nationalismus bei Serben und Kroaten 1830-1914 (München 1980) 49f., 75f. 169