Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 41. (1990)

HEPPNER, Harald: Serbien im Jahre 1889 nach einem Bericht Ludwig von Thallóczy's

Harald Heppner des Producenten gegen den Abnehmer, weil man glaubt, das wir von Serbien leben45). Wenn wir die jetzigen politischen Verhältnisse Serbiens objektiv ins Auge fassen, sehen wir trotz der gewaltigen Mehrheit der Radikalen schon einen zukünftigen Auflösungsprozess im Werden begriffen. Die radikale Partei46) en[t] stand trotz allen sozialen Utopien und haus- genossenschaftlich-demokratischen Schwärmereien aus der Reakzion der armen, einflußlosen Masse gegen die verschwägerte, jede Macht monopolisirende liberale Cotterie. Die Mehrheit der Intelligenz, der besitzenden Klasse ist liberal und hält zu Ristits, der sehr geschickt die Radikalen schalten, walten und sich blamiren lässt. Herr Tausanovic, den die „demokratischen“ Widersacher imnaer als Tabakhändler persi- fliren, hat nun das Heft und die Macht in der Hand und muss immer mehr zur Einsicht gelangen, dass versprechen und halten nicht einerlei ist. Die Mehrheit seiner Partei bestand aus Schwindlern, phrasendre­schenden Hohlköpfen und Idealisten, welche in der Opposition und in den Zeitungen die Welt reformirten; jetzt stellt es sich heraus, dass Vieles, das Meiste, sich nicht verwirklichen lässt. Steuerredukzion, Re­form des Militärwesens etc., das bleibt wahrscheinlich beim Alten. Die Volkstribunen Katié47), Ratarac48), die mit Niemanden [!] zufrieden sind, die Unterdrückten, die Überreste der versprengten Fortschrittler und die als Taktiker ausgezeichneten Liberalen49) bilden die Keime zur Auf­lösung oder Umgestaltung dieser mächtigen Partei. Früher wussten die radikalen Märtyrer nicht, was sie wollen, jetzt wollen sie das nicht, was sie wissen. Dann arbeiten sie mit wenig geistigem Capital. Das Cabinet ist sehr wenig talentirt. Der Chef, General Gruic, ist ein guter Herr, aber ein schwacher Politi­ker. Herr Tausanovic, ein magenleidender ehemaliger Tabakhändler, 45) Zum Handelsvertrag zwischen Österreich-Ungarn und Serbien von 1881 siehe Petrovich History 411 f. 46) Die Radikale Volkspartei begründete der Sozialist Svetozar Markovié. Sie ent­stand formell aber erst 1881 (Narodna radikalna stranka). Antibürgerlich orientiert, kam sie erstmals 1888 allein an die Regierung und arbeitete mit König Milan eine liberalere Verfassung aus (Petrovich History 408ff., 441). 47) Dimitrije Katié (1845-1899), zuerst Liberaler, dann Radikaler, Abgeordneter der Skupstina (Parlament). 48) Aleksa Ratarac (1854-1918), zuerst Geistlicher und Lehrer, dann Abgeordneter der Radikalen. 49) Großbürgerlich-nationalistische, daher eher prorussisch orientierte Partei, die 1880 die Wahlen verlor und die Regierungsverantwortung an die Fortschrittspartei abtre­ten mußte, 1886 aber wieder in die Regierung eingebunden wurde. Mit der Übernahme der Regentschaftsfunktion konnte sich der Führer Jovan Ristic weiterhin den Einfluß auf die serbische Innenpolitik sichern (Petrovich History 406—140 passim). 168

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