Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)

HEINDL, Waltraud: Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900. Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Problems

242 Waltraud Heindl Schicht traf, liegt auf der Hand. Umso verständlicher ist ihre größere Bereit­schaft, den Schutz, den das Ehescheidungsrecht ihr dagegen bot, zu nützen. Ein bedeutendes Gewicht für die Auflösung von Ehen besaßen in der Praxis wirtschaftlich-finanzielle Motive. Das Gesetz trug diesen nur insofern Rech­nung, als es einen „unordentlichen Lebenswandel, wodurch ein beträchtli­cher Teil des Vermögens des klagenden Teils in Gefahr gesetzt wird, etc.“ als Scheidungsgrund anerkannte84). Dementsprechend sind auch durch die wirt­schaftliche Situation bedingte Ehescheidungsgründe den amtlichen Statisti­ken nicht zu entnehmen. In den Ehescheidungsklagen, die in den Akten fest­gehalten sind, spielen dagegen materielle Gründe eine wichtige Rolle, obwohl sie offiziell meistens nicht als Anlaß zur Ehescheidung bezeichnet werden — was der gesetzlichen Lage eben nicht entsprochen hätte —, sondern eher zur Unterstreichung des ehewidrigen Verhaltens des Ehepartners verwendet werden. Aus den Akten wird auch manifest, daß vor allem der Entschluß der Frauen zur Ehescheidung maßgeblich von der wirtschaftlichen Situation der Ehe bestimmt wurde. Als Beispiel mögen die Ehescheidungsklagen der Ab­teilung 1 des Zivilgerichts Wien dienen: Von den 40 von Frauen beantragten Ehescheidungsklagen tritt in 15 Fällen die mangelnde materielle Basis der Ehe als wahre Ursache für die Ehescheidung hervor85). Diese Frauen führten u. a. vehement Beschwerde über unzureichende oder gar keine finanzielle Unterstützung von seiten ihrer Ehemänner86), so daß sie meistens gezwungen waren, selbst den Unterhalt für die Familie zu verdienen oder zumindest mitzuverdienen — ein Faktum, das ein Teil von ihnen erstaunlicherweise als selbstverständlich, ein anderer offenbar als unzumutbar empfand87). Beson­ders schwerwiegend dürfte die Vergeudung des Eigentums der Frau durch den Ehemann oder Diebstahl empfunden worden sein88 *). 84) Oesterreichisches Rechts-Lexikon 2 213. 85) WLSTA Cg 1. Ein Stichprobenverfahren, das in den anderen sieben Abteilungen dieses Zivügerichts durchgeführt wurde, bestätigte ungefähr dieses Ergebnis. 86) So nannte die Verkäuferin Olga Sch. als ersten Ehescheidungsgrund die Tatsa­che, daß ihr Mann, ein Kutscher, stellungslos sei und auch keine Arbeit anzunehmen gedenke: WLSTA Cg 2, n. 184/1898. - Die Hausfrau Mathilde St. beschuldigte ihren Ehemann, einen Nordbahnbeamten, „seine Pflichten als Vater und Ernährer nicht ein­gehalten“ zu haben und nicht nur zu wenig Unterhalt geleistet, sondern im Gegenteü von ihr Geld gefordert zu haben: WLSTA Cg 2, n. 101/1898. - Sehr oft trug auch die Trunksucht des Mannes die Schuld an den finanziellen Problemen der Famüie und war Anlaß zur Erhebung der Anklage durch die Frau: z. B. WLSTA Cg 1, nn. 462/1902, 131/1904 und 196/1904. 87) Die Federnschmückerin Julianne St. beklagte sich, daß sie und ihre neunzehn­jährige Tochter gezwungen waren, den Unterhalt für die Familie allein zu bestreiten: WLSTA Cg 2, n. 155/1898. — Die offenbar in sehr guten wirtschaftlichen Verhältnissen lebende Fuhrwerksbesitzersgattin Leopoldine Sch. beschwerte sich, daß sie die Ge­schäfte in Ordnung halten mußte, während sich ihr Mann „einem unordentlichen Le­benswandel hingab“: WLSTA Cg 2, n. 587/18. Die Reihe der Beispiele wäre weiter fortzusetzen. 88) „Unordentlicher Lebenswandel“ wurde dann als besonderes Ehevergehen ge­brandmarkt, wenn das Vermögen der Ehepartnerin dabei vergeudet wurde: siehe z. B. WLSTA Cg 1, nn. 77/1904 und 131/1904 und Cg 2, n. 204/1898.

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