Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)

HEINDL, Waltraud: Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900. Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Problems

Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900 243 Doch auch in den Ehescheidungsklagen, die von Männern erhoben werden, spielen wirtschaftliche Faktoren eine bedeutende Rolle, wenn auch in einer gänzlich verschiedenen Weise. Besonders tritt hier hervor, daß die „unwirt­schaftliche“ Frau, die nicht sparen konnte und „leichtsinnige Geldausgaben“ machte, als arge Belastung für die Ehemänner galt89). Selbstverständlich wurde wiederum Diebstahl als gravierendes Delikt empfunden90). Aber auch die Vorspiegelung einer größeren Mitgift, als sie dann tatsächlich ausbezahlt wurde, konnte zur Ehescheidungsklage von seiten des Mannes führen91). Die Feststellung, daß die Ehe als wirtschaftliche Verbindung für beide Ge­schlechter einen wichtigen Wert repräsentiert, ist nicht originell92). Wir dür­fen jedenfalls auch schließen, daß ökonomische Überlegungen für die Bewer­tung der Ehe bei Scheidungserwägungen im Vordergrund standen. Weiters dürfen wir ebenso annehmen, daß zumindest teilweise die Wunschvorstellung von den Rollen der Geschlechter bei Ausübung ihrer ökonomischen Funktio­nen in den städtischen Unterschichten dieselben waren, wie wir sie beim Bürgertum konstatierten: Dem Mann wurde die Rolle zugedacht, die Familie standesgemäß zu erhalten, der Frau, im Haus sparsam zu wirtschaften. Daß diese Wunschvorstellungen der Realität kaum entsprachen, ist eine andere Frage. Es wäre interessant, dem Thema nachzugehen, ob und in welcher Weise Dif­ferenzen zwischen den städtischen Unterschichten und den bürgerlichen Schichten gerade in Hinsicht der materiellen Ehescheidungsgründe bestan­den. Das hier vorliegende Aktenmaterial bezüglich der bürgerlichen Schei­dungen reicht, wie gesagt, nicht aus, um fundierte Aussagen zu machen. Es scheint jedoch, daß materielle Gründe in den Ehescheidungsklagen der Män­ner der bürgerlichen Schicht einen größeren Anteil hatten, während in den Klagen der städtischen Unterschichten die Frauen mehr dazu neig­ten, der mangelnden finanziellen Basis wegen ihre Ehe aufzulösen. Es wäre weiter interessant zu untersuchen, welche Wechselwirkung die be­rufliche Tätigkeit, etwa die des kapitalistischen Unternehmers, und das innerfamiliale Verhalten als patriarchalischer Familienvater aufeinander ausübten. Bestimmte Formulierungen vor allem beweisen nicht nur die Un­trennbarkeit der autoritären Position des Unternehmers und des patriarcha­lischen Familienvaters, sondern auch die Abhängigkeit des privaten vom öf­fentlichen Leben in dieser Schicht: „Ganz abgesehen davon, daß ich als Privatperson respective Gatte und Vater mir derartiges nicht bieten lassen ®9) Z. B. WLSTA Cg 1, nn. 635/1903, 90/1904 und 176/1904. *°) Der Kutscher Anton Sch. klagte auf Ehescheidung, weil ihm seine Frau Schmuck gestohlen und seine Anzüge versetzt hatte: WLSTA Cg 2, n. 557/1898. - Ein Lokomotivführer warf seiner Frau vor, sich an seinem Eigentum vergriffen zu haben, obwohl er eingestehen mußte, daß er ihr kein Wirtschaftsgeld gegeben hatte: WLSTA Cg 1, n. 635/1903. 91) WLSTA Cg 1, n. 270/1904. 92) Cott Eighteenth-Century Family 30 und 32 stellte fest, daß in den Eheschei­dungsakten von Massachussetts manifest wird, daß Ende des 18. Jahrhunderts in der ehelichen Beziehung vorwiegend ökonomische Aspekte als wichtig galten. 16*

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