Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)

HEINDL, Waltraud: Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900. Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Problems

Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900 235 gesetzes in Rechnung gestellt werden: Gerade in patriachalisch strukturier­ten Gesellschaften sollte den Frauen damit ein gewisser Schutz gegen die au­toritäre Verfügungsgewalt des Mannes in Ehe und Familie geboten wer­den65). Das Faktum, daß sie in einem solch erstaunlich hohen Ausmaß diesen Schutz für sich in Anspruch nahmen, daß sie selbst bei den prozessuellen Ehescheidungen als Klägerinnen weit in der Mehrzahl waren, während bei den Trennungen - also dort, wo die Flucht in das Nest der Ehe wieder mög­lich war - sich die Scheidungsklagen von Frauen und Männern die Waage hielten66), beweist in erster Linie, daß eben die Frauen, vor allem jene der Unterschichten, diejenigen waren, die dieses Schutzes am meisten bedurften. Für diese war allerdings auch eine Scheidung — dies ist zu bedenken, will man die hohe Rate der Ehescheidungsklagen der Unterschichtfrau zu be­gründen versuchen - praktisch und „ideologisch“ viel leichter zu bewerkstel­ligen als in den Ehen der Mittelschichten, in denen großfamiliale Verflech­tungen, ökonomische Interessen und Prestigedenken ineinandergriffen, in denen eine strikte katholische Familienmoral jegliche psychische Konditio­nierung für die Ehescheidung ausschloß und diese als schwerer Makel so­wohl für den Mann, vor allem aber für die Frau empfunden wurde. Ob die Tatsache, daß die Frau im allgemeinen die Möglichkeit der Ehescheidung mehr nützte als der Mann, schon als Hinweis dafür zu werten ist, daß die bis jetzt unbestrittene Autorität des Familienvaters gleichzeitig fraglich gewor­den war, bleibe dahingestellt. VI Der Erforschung der entscheidenden Motive, die im einzelnen Fall zu einer Ehescheidung führten, sind enge Grenzen gesetzt. Die zeitgenössischen Stati­stiken erscheinen hiefür wenig geeignet: Hier werden zwar die Scheidungs­gründe nach den Erhebungsformularen der Gerichte ausgewiesen, die Zäh­lungsmethoden differierten jedoch von Gericht zu Gericht und machen daher die Resultate unbrauchbar. Von einigen Gerichten wurde für den jeweiligen Scheidungsfall nur die für den Richter maßgebliche Scheidungsursache ge­zählt, von anderen wiederum sämtliche von den Parteien angeführten Klage­gründe67). In den Statistischen Jahrbüchern der Stadt Wien stehen daher den prozessuellen Ehescheidungsfällen, 1017 in den Jahren 1898-1905, fast dop­pelt so viele Ehescheidungsgründe, nämlich 1959, gegenüber68). Außerdem wurde keine differenzierte Zuordnung der Ehescheidungsgründe nach Ge­schlecht oder sozialer Schicht vorgenommen. 65) König Ehe und Ehescheidung 174. 66) Englisch Ehelösungsstatistik 486. 67) Englisch Ehelösungsstatistik 488. Bei den einverständlichen Ehescheidungen wurden die Ehescheidungsgründe überhaupt nicht angeführt, da die wirkliche Schei­dungsursache meistens nicht an die Öffentlichkeit gelangte. Die Ehepartner hatten sich auf die Angabe eines Grundes vor dem Gericht geeinigt. 6S) Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1902 140 und Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1905 50 (siehe auch S. 239).

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