Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)

HEINDL, Waltraud: Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900. Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Problems

236 Waltraud Heindl Die Akten der Ehescheidungsprozesse vermitteln dem Historiker bezüglich der Klärung der Scheidungsursachen eher gewisse Forschungshilfen. Der Darlegung der Ehescheidungsmotivation wurde vor den Gerichten naturge­mäß breiter Raum gegeben. Sinn und Zweck der Ehescheidungsverfahren war es schließlich, die Ehescheidungsmotivation glaubhaft zu begründen, was in der Praxis mit einer möglichst detaillierten Schilderung des ehelichen Verhaltens des „Gegners“ verbunden war, die den Richter überzeugen sollte. Dies erlaubt auch dem Historiker, gewisse seriöse Schlüsse zu ziehen. End­gültige Aussagen über den entscheidenden Scheidungsgrund im einzelnen aufgrund des Aktenmaterials zu statuieren, müßte allerdings fragwürdig er­scheinen. Zwei wichtige Kriterien müssen diesbezüglich quellenkritisch be­rücksichtigt werden, die eine Klärung der Motivation eines Eheprozesses er­schweren: erstens das juristische Eheprozeßverfahren selbst, das nach be­stimmten standardisierten Ehescheidungsgründen Recht sprach. Als absolute Scheidungsgründe galten für die prozessuelle Ehescheidung „Ehebruch, Schuldigerklärung [des Partners] an einem Verbrechen, boshaftes Verlassen, unordentlicher Lebenswandel, wodurch ein beträchtlicher Teil des Vermö­gens des klagenden Teils in Gefahr gesetzt oder die guten Sitten der Familie verletzt werden, dem Leben oder der Gesundheit gefährliche Nachstellungen, schwere Mißhandlungen oder nach dem Verhältnisse der Personen sehr emp­findliche wiederholte Kränkungen, anhaltende mit der Gefahr der Anstek- kung verbundene Leibesgebrechen“. Außerdem waren auch gewisse andere Gründe zulässig69). Des praktischen Eheprozesses wegen gewannen aber hauptsächlich die im Gesetz genannten Gründe und nicht eventuelle andere, die im Ehealltag eine beträchtliche Rolle gespielt haben mochten, an Bedeu­tung und figurieren dementsprechend in den gerichtlichen Akten70). Zweitens müssen durch menschliche Unzulänglichkeiten zustande gekom­mene Falschinformationen berücksichtigt werden: bewußte Lügen und Ver­schleierungen, vor allem aber auch unbewußt durch Emotionen verzerrte Darstellungen und vorgeschobene Rationalisierungen, die die wahren Schei­dungsgründe verdeckten. Manchmal ist es unmöglich, falsche Aussagen als solche zu identifizieren, manchmal sind sie zu vermuten, oftmals sind sie auch klar zu erkennen — durch die Betonung bestimmter Faktoren und Ereignisse, durch die Gegen­überstellung der Aussagen der Parteien. Im großen und ganzen ist jedoch, das ergibt sich als Resultat aus den quellenkritischen Überlegungen, das Ma­terial für die Klärung der individuellen Ehescheidungsmotivation im einzel­nen Fall wertlos. Eine andere Perspektive der Betrachtung dieser Quelle scheint jedoch mög­lich. Wenn wir von der Annahme ausgehen, daß ausgesagt wurde, was ent­weder subjektiv als richtig empfunden wurde oder auch womit man objektiv 69) Oesterreichisch.es Rechts-Lexikon 2 213. Über die absoluten Scheidungsgründe, besonders über den Stellenwert des Ehebruchs, Wolfram Müller-Freienfels Ehe und Recht (Tübingen 1962) 135-144 und 3181 70) Zur Quellenkritik siehe auch S. 222 ff.

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