Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)

HEINDL, Waltraud: Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900. Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Problems

234 Waltraud Heindl auch minimale finanzielle Unabhängigkeit die Voraussetzung dafür, die Möglichkeit einer Ehescheidung in einer nicht funktionierenden Ehe über­haupt erst in Erwägung zu ziehen. Die finanzielle Unabhängigkeit, die oft­mals den Frauen der bürgerlichen Schicht entweder durch die Existenz von Eigenvermögen61) oder durch den entsprechenden Rückhalt im Elternhaus geboten war, konnte sich die Frau der Unterschichten nur durch Berufsar­beit erwerben, selbst wenn die Löhne, die sie in ihren meistens ungelernten Berufen bezog, äußerst niedrig waren. Das gesamte Phänomen der hohen Rate der Ehescheidungsklagen der Frau monokausal mit der Berufsarbeit der Frau erklären zu wollen, scheint jedoch zu eng zu sein. Der komplexe Prozeß des Wandels der gesamten Famüiensi- tuation mit der damit verbundenen „Funktionsentlastung“62), welche Ur­banisierung und Industrialisierung mit sich brachten, ist wohl als primäre Wurzel für die flexiblere Haltung der Geschlechter, im besonderen der Frau, der Ehe gegenüber zu betrachten. Es ist jedoch auch die These nicht von der Hand zu weisen, daß die Frau gleichzeitig mit diesem Wertwandel der Fami­lie ihre individuellen Ansprüche zu entdecken begann63), ein Prozeß, der von manchen politischen Parteien in Österreich, allen voran den Sozialdemokra­ten und Sozialliberalen, und den Frauenbewegungen gestützt und gefördert wurde. Die praktische Wirkung der Propagierung der neuen Ideen in tieferen Schichten des Volkes außer in eng abgesteckten intellektuellen Kreisen abzu­schätzen, ist freilich unmöglich. Aus dieser Perspektive scheint es jedoch kein Zufall zu sein, daß nach der Jahrhundertwende die Ehebruchsrate der Frauen rapid, besonders unter den Intellektuellen, zu steigen begann64) und sich dementsprechend die Zahl der Ehemänner wieder vermehrte, die ihrer­seits den Antrag auf Ehescheidung stellten. In diesem Zusammenhang muß Sinn und Zweck eines jeden Ehescheidungs­61) Nach österreichischem Eherecht besaß die Frau in rechtsgeschäftlicher und vermögensrechtlicher Hinsicht Dritten gegenüber ein großes Maß an Freiheit, denn die Eheschließung hatte keinen Einfluß auf das Vermögen der Gatten (§ 1233 ABGB). Die Ehefrau behielt daher ihr Eigentum am eingebrachten wie am erworbenen Gut (§ 1237 ABGB) und konnte ihr Vermögen, sofern sie es wünschte, auch selbst verwalten. Ge­bräuchlich aber nicht rechtsnotwendig war es, einen Teil ihres Vermögens als Beitrag für die Haushaltskosten (Heiratsgut) dem Mann zu übertragen, das dieser besaß, so­lange die Ehe bestand. Nach der Auflösung der Ehe war es der Frau oder dem Erben zurückzuerstatten (§§ 1217-1229 ABGB). Alle anderen Vermögensanteüe der Frau blieben zu ihrer freien Verfügung. Außerhäuslicher Arbeitsverdienst oder Einkünfte aus selbständigem Erwerb blieben in ihrer Hand. Siehe dazu Marianne Weber Ehe­frau und Mutter in der Rechtsentwicklung. Eine Einführung (Tübingen 1907, Neu­druck Aalen 1971) 343; siehe auch Die rechtliche Stellung der Frau in Österreich. Eine Zusammenstellung der wichtigsten die besondere Stellung der Frau im privaten und öffentlichen Recht betreffenden Vorschriften, hg. von Viktor Pitter (Wien/Leipzig 1911). 62) Zum Wertwandel und zur Funktionsentlastung der Famüie Mitterauer Ur­banisierung und Frühindustrialisierung 57. 63) Dazu Scott — Tilly Women’s Work 6Iff. 64) Englisch Ehelösungsstatistik 467.

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