Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)
HEINDL, Waltraud: Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900. Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Problems
Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900 233 gentlicher Motor für eine Entscheidung anzusehen ist, die Ehescheidung für sich in Anspruch zu nehmen, ist kaum eindeutig zu beantworten. Zur Erklärung des Phänomens der stärkeren Scheidungstendenz der Frau in den städtischen Unterschichten müssen verschiedene andere Ursachen mitberücksichtigt werden: So hatte etwa die vorher erwähnte, auf eine Rollenfixierung auf das Haus ausgerichtete Mädchenerziehung sicher nicht dieses Gewicht wie im bürgerlichen Mittelstand. Wie weit die in Österreich hauptsächlich von der katholischen Moralauffassung bestimmten bürgerlichen Sexualnormen und die Ehemoral im beginnenden 20. Jahrhundert bei den städtischen Unterschichten Wirkung hatten und wie weit hier eine geschiedene Frau gesellschaftlicher Ächtung ausgesetzt war, ist fraglich57). Der Zeitgenosse Karl Ritter von Englisch sieht in der Verbreitung von „Sozialismus“ und „freier Liebe“ einen nachteiligen Einfluß auf die Ehemoral der Arbeiterschaft58) und macht diese zum Teil für die hohe Scheidungsrate verantwortlich. Den hohen Anteil an Frauen unter den Scheidungsklägern versucht er mit dem ritterlichen Argument zu erklären, daß sich eben in den meisten Fällen in der Regel die Ehemänner und nicht ihre Frauen gravierender Eheverfehlungen schuldig machten59). Doch sollen diese Fakten auch nicht überschätzt werden: Sowohl die Berufsarbeit der Frau als auch die „freiere Sexual- und Ehemoral“ hatten in den Unterschichten Tradition60), und auch die männlichen Eheverfehlungen stellen kein Phänomen dar, das erst um die Wende zum 20. Jahrhundert auftrat. In diesem Kontext gewinnt die Tatsache an Bedeutung, daß auch der Anteil der bürgerlichen Frau des Mittelstandes an den Ehescheidungsklagen ungewöhnlich hoch war. Er lag mit 68,7% nur um 4% bzw. um 0,4% unter dem Niveau der Arbeiterinnen bzw. der kleinbürgerlichen, dem unteren Mittelstand angehörenden Frauen, obwohl der Prozentsatz der Berufsarbeit der bürgerlichen Scheidungsklägerinnen mit 17,9% gegenüber 67,3% bzw. 57,6% der Unterschichten um vieles geringer war. Die Scheidungstendenz der Frau im allgemeinen hatte um 1900 - mit oder ohne Berufsarbeit der Frau — einen Höhepunkt erreicht. Mit diesen Erklärungsversuchen soll der Stellenwert der Berufsarbeit der Frau für den Emanzipationsprozeß von Ehe und Familie gerade bei den Unterschichten nicht in Abrede gestellt werden. Gewiß schuf erst eine, wenn 57) Zur unterschiedlichen Familiensituation und Sexualmoral der bürgerlichen Schichten im Vergleich mit der frühen Industriearbeiterschaft vgl. Reinhard Sieder Vom Patriarchat zur Partnerschaft in Michael Mitterauer - Reinhard Sieder Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie (Beck’sche Schwarze Reihe 158, München 1977) 160ff. 5S) Englisch Ehelösungsstatistik 474. 59) Ebenda 487. 60) Zur Tradition der Berufsarbeit der Frau in den europäischen Unterschichten vgl. Scott - Tilly Women’s Work 36-63; zur Sexualmoral der Arbeiterschaft Sieder Vom Patriarchat zur Partnerschaft 160ff; zum bayerischen Beispiel Shorter „La vie intime“ 530-549.