Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)

HEINDL, Waltraud: Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900. Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Problems

Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900 227 Die Akten der Ehescheidungsprozesse des Landesgerichts Wien vermitteln uns jedoch, was die Frage der sozialen Schicht der Ehescheidungskläger be­trifft, ein deutlicheres Bild als die Statistik, die nur nach Berufen, nicht aber nach Einkommen gliederte. Nicht nur die Berufsangaben in den Eheschei­dungsakten, sondern vor allem die detaillierten Schilderungen der Einkom­mens- und Wohnverhältnisse, die in den Akten zumindest häufig, wenn auch nicht immer, zutage treten, machen eine genauere Differenzierung möglich. Diese aber erlaubt die Schlußfolgerung, daß die Ehescheidung ein Phänomen darstellte, das in erster Linie den „unbemittelten Klassen“ zuzuordnen war, und zwar weit mehr als aus der Statistik hervorgeht. Jene Kategorie, die im Statistischen Jahrbuch die Berufe „Beamte, Anwälte, Ärzte, Lehrer, Gelehrte, Journalisten, Schriftsteller“ subsumiert, wurde im allgemeinen als „freie Intelligenz“ bezeichnet und stellte einen in der Gesell­schaft geachteten Stand dar. In den Prozessen, die durch die Ehescheidungs­akten dokumentiert sind, treten allerdings nur ganz wenige Vertreter dieser hochgeschätzten Berufe auf. Jene Scheidungskläger, die man dieser Katego­rie der Statistik zurechnen könnte, sind großteils niedere Staats- und Ge­meindebeamte (Sicherheitswachebeamte, Krankenwärter der Gemeindespitä­ler, Aufseher der Staatseisenbahnen etc.), kleine Privatangestellte (Handels­und Versicherungsagenten), Volksschullehrer, Volkssänger, Kapellmeister unbedeutender Orchester etc. Was jedoch besonders jene Gruppe anbelangt, die in der Statistik unter der Kategorie „Industrielle, Gewerbetreibende, Kaufleute“ zusammengefaßt wurde, scheint größte Vorsicht am Platz zu sein, wenn man sich eine haupt­sächlich aus wohlhabenden, gebildeten, dem gehobenen Mittelstand angehö- rigen Mitgliedern zusammengesetzte homogene Gruppe vorstellen möchte. Mit dieser Kategorie wurden in der amtlichen Statistik alle wirtschaftlich Selbständigen erfaßt. Nun finden sich in den Ehescheidungsakten Kläger oder Beklagte, die die Berufsbezeichnungen „Fabriksbesitzer“, „k. u. k. Tuch- und Schafwollwaren-Operateur“, „Hausbesitzer“ oder „Blusenfabri­kant“ wählten31) und deren geschilderte Lebensverhältnisse auch tatsächlich den Eindruck bürgerlicher Wohlhabenheit erwecken. Doch diese bleiben Ausnahmen. In der Regel handelt es sich bei den „wirtschaftlich Selbständi­gen“, denen wir in den Ehescheidungsakten begegnen, um kleine Gewerbe­treibende: u. a. Schneider, Jalousienerzeuger, Gastwirte, Branntweinschen­ker, Zahntechniker, Uhrmacher, Tapezierermeister, Gemischtwarenhändler, Schuhmacher etc., deren Lebensumstände eher kümmerlich auf uns wirken. 1000 Eheschließungen der Unternehmer 2,84 Ehescheidungen. Dazu Englisch Ehelö­sungsstatistik 474. - Für eine Untersuchung der Ehescheidungsrate über einen länge­ren Zeitraum hinweg müßte der Zusammenhang zwischen den Konjunkturzyklen und der Ehescheidungsrate der einzelnen Schichten berücksichtigt werden. Ansätze dazu ebenda 476ff, wo diesbezüglich das Nachlassen der Hochkonjunktur im Jahre 1897 in­terpretiert wird. 31) Beispiele aus WLSTA Cg 1, nn. 140/1903, 268/1904 und 278/1904.

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