Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)
HEINDL, Waltraud: Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900. Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Problems
228 Waltraud Heindl Schlechte Wohnungsverhältnisse sind in der Mehrzahl. Fälle wie der des Uhrmachermeisters K., dessen Wohnung aus einem Geschäftslokal und einer Küche bestand32), oder der des Schneidermeisters K., der eine Wohnung bestehend aus Zimmer, Küche, Kabinett und einem Gassenladen besaß, und „das Zimmer“ an ein Ehepaar vermietet hatte33), sind keine Seltenheit. Viele Ehefrauen dieser selbständigen Gewerbetreibenden arbeiteten außer Haus. Die Frau des Jalousienerzeugers O. war Verkäuferin bei ihrer Mutter34), die Frau des Gastwirtes K. arbeitete als Köchin35), die Frau des Tapezierermeisters K. war Näherin36), die Frau des Waffenschmiedemeisters C. Schneiderin37), die des Gemischtwarenhändlers K. Schulbedienerin38) und die Frau eines „Hausbesitzers und Branntweinschenkers“ wurde „gezwungen“, ab 4 Uhr früh in der eigenen Branntweinschank zu arbeiten39) - um nur einige Beispiele herauszugreifen. Die überwiegende Mehrzahl der in den Akten der Ehescheidungsprozesse vertretenen wirtschaftlich Selbständigen war also arm. Viele suchten um Befreiung von den Gerichtskosten und um Beistellung eines Armenanwalts an, und das Bild des Ehealltags, das hin und wieder aus den Protokollen deutlich wird, sowie die Schilderung der Motive, die schließlich zum Entschluß führten, die Klage zur Ehescheidung zu erheben, erinnern keineswegs an die Ehetragödien Schnitzlerscher Prägung. Die Auswertung der Akten der Ehescheidungsprozesse erlaubt uns also, die Ehescheidungsstatistik bezüglich der Schicht der „freien Intelligenz“ und der „wirtschaftlich Selbständigen“ zu differenzieren und den Anteü des kleinbürgerlichen Elements an der Ehescheidungsrate der prozessuellen, also nicht einverständlichen Ehescheidungen herauszustreichen40). Allerdings muß auch hier vor Verzerrungen gewarnt werden, die aufgrund der einseitigen Berücksichtigung der prozessuellen Ehescheidung entstehen könnten. Darum sei in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, daß im allgemeinen danach getrachtet wurde, einseitige Ehescheidungsklagen zu ver32) Ebenda n. 143/1904. 33) Ebenda n. 624/1908. 34) Ebenda n. 574/1902. 35) Ebenda n. 613/1902. 36) Ebenda n. 148/1903. 37) Ebenda n. 77/1904. 30) Ebenda n. 131/1904. 39) Ebenda n. 35/1903. 40) Folgende Relationen haben sich bei der Untersuchung des Aktenmaterials ergeben: 187 Akten (das sind ca. ein Drittel der Abteilungen Cg 1-8 von 1898-1905) wurden zur Untersuchung herangezogen, davon die Abteilung Cg 1 vollständig, die anderen Abteilungen nach dem Stichprobenverfahren. Von diesen 187 Ehescheidungsakten sind nach der in der Statistik vorgenommenen Kategorisierung der Arbeiterschaft 88 Ehepaare, für „Industrie, Gewerbe, Kaufleute“ und „freier Intelligenz“ 99 zuzuordnen. Von diesen 99 Ehepaaren wiederum waren eindeutig 63 nach Einkommen und Wohnverhältnissen den Unterschichten zuzurechnen und nur 36 dem mittleren und höheren Bürgertum.