Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)

HEINDL, Waltraud: Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900. Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Problems

222 Waltraud Heindl Tragweite des Ehelösungsproblems widerspiegeln. Eine Beleuchtung dieses Problems soll am Beispiel Wien versucht werden. III Neben der nüchternen Zahlenwelt der Statistik stehen für den Bereich Wien die im Wiener Landes- und Stadtarchiv aufbewahrten Akten der Eheschei­dungsprozesse zur VerfügungiS) 16), die auf den ersten Blick ausgezeichnet ge­eignet scheinen, das Problem der Ehelösung historisch zu veranschaulichen. Sie bringen nämlich nicht nur ausführliche Informationen über Kläger und Beklagte mit jeweiligen Alters-, Religions-, Berufsangaben und Auskünfte über die Ehedauer und die Ehescheidungsgründe. Beigeschlossen sind nor­malerweise die Protokolle der sogenannten „Tagsatzungen“ (Versöhnungs­versuche), zu denen Kläger und Beklagte persönlich zu erscheinen und den Zustand ihrer Ehe zu schildern hatten, dann die sogenannte „Klagebeant­wortung“ des Beklagten, dem damit Gelegenheit gegeben wurde, sich zu ver­teidigen und die Schuld zu bestreiten, und weiters - sofern es sich um Arme handelte, die um Befreiung von den Gerichtskosten und um Beistellung eines Armenanwalts ansuchten — „Fragebögen“ für die Ausstellung des Armuts­zeugnisses, die jeweils Angaben über Alter, Geschlecht, Religion, Beruf, Wohnungsgröße, über die Anzahl der im gemeinsamen Haushalt lebenden Personen (Kinder, Verwandte, Mieter, Bettgeher etc.) und die Einkommens­oder Lohnverhältnisse enthalten. Außerdem sind Urteil und Urteilsbegrün­dung angeführt. Allerdings — das muß festgestellt werden — handelt es sich bei diesem heute vorhandenen Aktenmaterial um eine Auswahl, die bereits durch die Verfah­rensweise beim Eheprozeß bedingt war. Dem Verfahren in Ehestreitigkeiten gemäß gab es zwei Möglichkeiten, eine Ehescheidung durchzuführen, das au­ßerstrittige Verfahren, also die einverständliche Ehescheidung (Ehetrennung) und das strittige Verfahren, bei welchem nur ein Eheteil die Scheidung (Trennung) beantragte. Für die einverständliche Scheidung waren im allge­meinen die Bezirksgerichte zuständig. Die entsprechenden Akten sind heute in Wien nicht mehr erhalten. Die nicht einverständlichen, also die prozessu- ellen Ehescheidungen sowie die Ungültigkeitserklärungen oder Auflösungen (Trennungen) von Ehen unterlagen der Entscheidung der Gerichtshöfe erster Instanz (Landes-, Kreisgerichte)17). Die Ehescheidungsakten des Landesgerichts Wien, die allein für diese Unter­suchung herangezogen wurden, geben deshalb nur vom sogenannten prozes- suellen Ehescheidungsverfahren Zeugnis, das jedoch generell von den Ehe­partnern, die die Scheidung anstrebten, weit weniger beansprucht wurde als das einverständliche. Diese Akten über prozessuelle Ehescheidungen wurden iS) wiener Landes- und Stadtarchiv Landesgericht für Civilrechtssachen Wien (im folgenden WLSTA Cg), Abteilungen 1-8 (zeitweise waren auch andere Abteüungen mit Ehestreitsachen befaßt). Die Abteilungen bildeten sogenannte Buchstabenreferate. ,7) Oesterreichisches Rechts-Lexikon 2 212f.

Next

/
Oldalképek
Tartalom