Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)

HEINDL, Waltraud: Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900. Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Problems

Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900 223 noch dazu teils durch eine wahrscheinlich bereits bei den Gerichten selbst vorgenommene „Skalierung“, teils durch den Justizpalastbrand 1927 redu­ziert, u. zw. je weiter man zeitlich zurückgeht, desto gründlicher18) (die er­sten erhaltenen Akten stammen aus dem Jahr 1898). Folgender Überblick soll die Relationen zeigen19): einverständliche prozessuelle erhaltene Scheidungen Scheidungen Akten 1898 333 85 28 1899 365 100 47 1900 396 88 48 1901 426 122 88 1902 474 165 106 1903 561 140 72 1904 556 155 118 1905 572 162 130 Für eine Aktenanalyse dieses Materials müssen als wichtige Beurteilungsfak- toren Zweck und Ziel der Ehescheidungsakten berücksichtigt werden. Zweck der Akten war es, die jeweüige Entscheidungsfindung des Gerichts zu doku­mentieren, jene Fakten festzuhalten, mit deren Hilfe der Richter seine Ent­scheidung vor sich, vor den am Prozeß beteiligten Personen und — wenn es notwendig werden sollte — vor anderen Instanzen legitimieren konnte. Ziel für den Kläger, der die Informationen lieferte, war es wiederum, den Prozeß „zu gewinnen“, also die Ehescheidung zu erreichen. Ziel für den Beklagten war es, das Verschulden ganz oder wenigstens teilweise von sich abzuwälzen. Daher ist bei der Beurteilung der Akten als historischer Quelle zu bedenken, daß praktisch 1. in ihnen nur protokolliert wurde, was dem Gericht als ehewidriges Ver­halten erschien, 2. sowohl vom Kläger als auch vom Beklagten nur jene Fakten angegeben wurden, die dem „Gegner“ — wie es in der Aktensprache heißt — als ehe­widriges Verhalten angelastet werden konnten20). ls) Solange die Frage nicht geklärt werden kann, ob eine Zufalls aus wähl vorliegt oder ob bei den Gerichten die Auswahl unter bestimmten Gesichtspunkten vorgenom­men wurde, erscheint die Anwendung der quantifizierenden Methode zur Auswertung dieses Aktenmaterials eher problematisch. 19) Statistische Angaben in Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1902 20 (Wien 1904) 139 und Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1905 23 (Wien 1907) 49. - Die Akten nach dem Behelf WLSTA Namensverzeichnis, Civilge- richt Wien, Streitsachen, Abteilungen 1-8, 1898-1927. 20) Als Vergleich dazu siehe die quellenkritischen Überlegungen zu der Aussage­kraft von gerichtlichen Strafakten bei Wiebke Steffen Grenzen und Möglichkeiten der Verwendung von Strafakten als Grundlage kriminologischer Forschung: Methodi­sche Probleme und Anwendungsbeispiele in Die Analyse prozeß-produzierter Daten (Historisch-Sozialwissenschaftliche Forschungen. Quantitative sozialwissenschaftliche Analysen von historischen und prozeß-produzierten Daten 2, hg. von Paul J. Müller, Stuttgart 1977) 89-108.

Next

/
Oldalképek
Tartalom