Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)
HEINDL, Waltraud: Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900. Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Problems
Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900 219 Überzeugungen, Repräsentantinnen der Frauenbewegung und Psychologen wie Sigmund Freund und Wilhelm Stekel teilnahmen. Im Zuge dieser Enquete und in den nachfolgenden Publikationen, die sie auslöste, ging man jedoch weit über die Debatte der Rechtslage hinaus* 3). Die Diskussion erreichte bald ganz andere Dimensionen: Die Frage Ehe und Ehelösung wurde aus philosophischer, religiöser, moralischer, psychologischer, sozialer und sexueller Sicht beleuchtet4) und erhielt so die Bedeutung eines gravierenden gesellschaftlichen Problems. Gegner blieben nicht aus: Manchen erschien die Eherechtsreform eher als ein „Schlagwort des Tages“5). Für andere dagegen wurde sie geradezu zum Vehikel gesellschaftsemanzipa- torischer Bewegungen. Fast zwangsweise warf die Debatte über die Reform des Eherechts zugleich die Frage nach der Gleichberechtigung der Frau auf, wobei die Meinungen sehr weit auseinandergingen. Karl Kraus forderte bereits 1902 in einem flammenden Artikel in der Fackel anläßlich eines geschmacklosen Ehebruchprozesses in Wien, daß der Frau als der sozial Schwächeren die Scheidung erleichtert werde6). Otto Weiningers 1903 erschienenes Werk Geschlecht und Charakter sei als extrem negative Stimme zu der damals vieldiskutierten Frage der Gleichheit von Frau und Mann zitiert7). Eine Änderung des Eherechts jedoch wurde, so scheint es, in Wien um 1900 allgemein als Forderung erhoben. Die deklarierten Wortführer des Anliegens waren vor allem Repräsentanten des intellektuellen Bürgertums8). Vehezeichneten Ausführungen von John W.Boy er Freud, Marriage und Late Viennese Liberalism: A Commentary from 1905 in The Journal of Modem History 50/1 (1978) 73-102. 3) Als Publikationen zur Rechtsfrage seien genannt: Adolf Leth Zur Reform des österreichischen Eherechts (Wien 1906) und Max v. Hussarek Unser Eherecht in österreichische Rundschau 2 (Februar — April 1905) 535-542. Beide traten zur Verteidigung des bestehenden Rechts auf, Hussarek jedoch eher vorsichtig. Leths Vorschläge dagegen liefen au'f eine Verschärfung des herrschenden Rechts hinaus und nahmen für sich in Anspruch, „nicht einen Übergang zur allgemeinen Trennbarkeit, sondern zur allgemeinen Untrennbarkeit“ zu schaffen: Leth Reform 4. 4) Einen guten Einblick geben die Protokolle der Enquete (wie Anm. 2). 5) Hussarek Unser Eherecht 535. 6) „Denn die Heüigkeit der Ehe würde, sobald sie aufhörte, ,Rechtsgut‘ zu sein, beträchtlich gemehrt werden. Sie wäre nicht mehr von jener unseligen Heuchelei beleidigt, unter der Menschen fortleben ...“: Karl Kraus Sittlichkeit und Kriminalität, hg. von Heinrich Fischer (Die Bücher der Neunzehn 191, München 1970) 27. 7) Über die seit 1900 erschienene europäische Literatur zur Frage von Ehe und .Frauenemanzipation berichtet in der Einleitung zur zweiten Auflage Otto Ca spari Die sociale Frage über die Freiheit der Ehe. Mit Berücksichtigung der Frauenbewegung vom philosophisch-historischen Gesichtspunkt (Frankfurt/Main 21905) 1—7, ein Werk, das auch in Österreich große Verbreitung fand. 8) Dafür aufschlußreich ist die Liste jener Teilnehmer, die bei der Eherechtsenquete (wie Anm. 2) vertreten waren: Dr. Moriz Benedikt, Rudolf Boeck, Jakob Brod, Amalie v. Ebner, Dr. Emil Franzos, Johann Sigismund Franzos, Dr. Siegmund Freud, Alfred Fried, Dr. Robert Granitsch, Rudolf Hawel, Rudolf Hlawatschek, Henriette Herzfelder, Dr. Viktor Kienböck, Adolf Leth, Dr. Karl Lifczis, Mary Markowski, Grete