Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)
HEINDL, Waltraud: Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900. Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Problems
220 Waltraud Heindl mente Klagen oder auch nur nüchterne Feststellungen über eine Krise der Ehe, eine verfallende Ehemoral, sich häufende Ehescheidungen und die Zunahme von „freier Liebe“ und Konkubinaten sind nicht zu überhören. Berichte über den „Verfall der guten Sitten“ sind jedoch keine Seltenheit in der Geschichte* 9). Die Frage, die sich für den Historiker in diesem Zusammenhang stellt, lautet, ob der Eindruck, den diese recht theoretisch klingenden Äußerungen erwecken, auch der Realität entsprach. II Die meines Wissens erste zeitgenössische Darstellung über die Ehelösungsverhältnisse, die Licht in die Situation der tatsächlichen „Ehemoral“ bringen sollte, ist der Artikel Streiflichter aus dem Bereich der letzten 25 Jahre österreichische Ehelösungsstatistik“ des Statistikers Dr. Karl Ritter v. Englisch10). Vermutlich wurde auch dieser Artikel als Reaktion auf die Eherechtsenquete und unter dem Einfluß des lebhaften Tagesinteresses geschrieben. Diese zeitgenössische Untersuchung soll als Ausgangspunkt dienen. Aufgrund der seit 1882 von den Gerichten ausgefüllten Zählblätter, die Glaubensbekenntnis, Beruf des Mannes, Alter, Nachkommenschaft, Scheidungsgrund, Verschulden, den Bestand von Ehepakten und die Dauer der Ehelösungsprozesse angeben, behandelt Englisch folgende Fragen: „1. die Scheidungs- und Trennungsfrequenz, 2. Konfession und Ehelösung, 3. die katholischen Ehescheidungen nach ihrer territorialen Aufteilung sowie nach der Durchführungsart, 4. die nach dem Berufe des Ehegatten gegliederten Ehelösungen, 5. die Ehelösungen nach dem Familienstand, 6. Verursachung der Ehelösung.“ Aufgrund dieses Zahlenmaterials kommt der Statistiker Karl Englisch zu dem - auf die gesamte westliche Reichshälfte der österreichisch-ungarischen Monarchie bezogenen — Ergebnis, daß die „stetige dauernde Zunahme sowohl der Scheidungen wie auch der Trennungen aller Konfessionen und Berufsschichten ... in ihrer Art bedrohlich“ und Ausdruck „einer die Massen der Gesellschaft durchlohenden, viel tiefer liegenden sozialen und inneren Bewegung“ sei11). Meisel-Heß, Anton Neveöerel, Dr. Julius Ofner, Dr. Karl v. Pelser-Fümberg, Dr. Richard Preßburger, Dr. Emil Rechert, Fritz Riederer, Dr. Stephan Ringer, Dr. Viktor Rosenfeld, Dr. Gustav Scheu, Dr. Robert Scheu, Dr. Siegmund Schüder, Max Schloß, Dr. Wilhelm Stekel, Kamilla Theimer, Dr. Ludwig Vogler, Dr. Siegmund Zins. 9) Vgl. dazu über das Beispiel Bayern im Vormärz Edward Shorter „La vie intime“. Beiträge zu seiner Geschichte am Beispiel des kulturellen Wandels in den bayerischen Unterschichten im 19. Jahrhundert in Soziologie und Sozialgeschichte. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Sonderheft 16 (1972) 530-549. 10) In Statistische Monatsschrift, hg. von der k. k. Statistischen Zentral-Kommis- sion, Neue Folge XIV (1909) 457-503. Dr. Karl Ritter v. Englisch, später Universitätsprofessor, war höherer Beamter der Statistischen Zentral-Kommission. J1) Englisch Ehelösungsstatistik 493.