Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 32. (1979)
HAAS, Hanns: Die Vereinigten Staaten von Amerika und die alliierte Lebensmittelversorgung Österreichs im Winter 1918/19
236 Hanns Haas Wiener Außenministerium war es Ende Oktober gelungen, über diplomatische Vertreter der Allierten in der Schweiz Kontakt zum britischen und französischen Außenministerium herzustellen. Außenminister Graf Andrássy nützte die Gelegenheit, um die Dringlichkeit des Waffenstillstandes zu unterstreichen. Er ersuchte, Ententevertretem „eindringlich darzulegen, daß die Verhältnisse in der Monarchie vornehmlich infolge des stürmisch sich äußernden Friedensbedürfnisses eine stets kritischer werdende Gestaltung gewinnen und bereits einen unverkennbar bolschewikischen Einschlag aufweisen. Wenn diese Zustände nur noch ganz kurze Zeit andauern, dürfte der Eintritt eines bolschewikischen Regimes bei uns unvermeidlich werden und es steht wohl außer Frage, daß ein solches dann auch nach Westeuropa übergreifen würde“14). Gleichzeitig mit der ersten Information über den Zusammentritt der deutschösterreichischen Nationalversammlung vom 21. Oktober berichtete der amerikanische Vertreter in Bern, Stovall, nach Washington, daß Tschechen und Ungarn alle Lebensmittelzusendungen nach Wien gesperrt hätten15). Er bestätigte die Meldung von der beginnenden Hungerblockade Österreichs durch die Nachfolgestaaten16). Am 31. Oktober übermittelte er eine Notiz der im Westen gut bekannten Neuen Freien Presse: „Vienna extremely short food supplies... Care of public order and personal safety [is] anxiety of all“17 *). Seine Note langte am 1. November in Washington ein. An diesem Tag versammelte der päpstliche Nuntius die Vertreter der in Wien akkreditierten Missionschefs der neutralen Staaten „to request the neutrals to intervene in favo[u]r of the provisionment of Vienna which has food only until November fourteenth“ls). Noch aber ist der Krieg nicht zu Ende und ein Eingriff in die Lebensmittelversorgung Österreich-Ungarns gänzlich ausgeschlossen. Erst der Waffenstillstand vom 3. November besiegelt das Ende des habsburgischen Systems. Es besteht kein Hindernis für ein Engagement der Alliierten zugunsten der nunmehr entstandenen politischen Ordnung. Wenngleich die amerikanische Regierung - ähnlich wie die britische — die endgültige Entscheidung über die Neuordnung Europas den Friedensverhandlungen vorbehielt, so nötigte sie doch die gesellschaftliche Krise in den ehemals habsburgischen Gebieten zu sofortigem Eingreifen. Denn vieles sprach dafür, daß die zerfallende habsburgische Monarchie — oder zumindest einige ihrer industriellen und urbanen Zentren - von der „bolschewistischen Bewegung“ bedroht war, und es galt als gänzlich unsicher, wie lange etwa Adler und Seitz, von Stovall als „law 14) Telegramm von 1918 Oktober 31: HHStA NPA Präs. 262 fol. 19. 15) Telegramm von 1918 Oktober 26: Verfilmung der amerikanischen Akten aus dem Bestand der National Archives, Washington D. C., Serie NA 695/5, ZI. 863.00/93. 16) Telegramm von 1918 Oktober 27: ebenda ZI. 863.00/95. 17) Ebenda NA 367/R. 115, ZI. 763.72/12021; auch in Papers Relating to the Foreign Relations of the United States 1918 (= FR) Suppi. 1 (Washington 1942) 439-440. ls) Übermittelt in einem Telegramm Stovalls von 1918 November 7: NA 367/R. 115, Zl. 763.72/12122.