Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 32. (1979)

HAAS, Hanns: Die Vereinigten Staaten von Amerika und die alliierte Lebensmittelversorgung Österreichs im Winter 1918/19

Amerika und die Lebensmittelversorgung Österreichs 237 abiding socialists“ bezeichnet, die Macht hatten, den Kräften der „anarchy“ entgegenzuwirken19). Dazu kam noch, daß die russischen Sowjets am 3. No­vember 1918 die deutschen, tschechischen, kroatischen, ungarischen und slowenischen Arbeiter, Soldaten und Bauern aufforderten, sich mit ihnen zu verbünden, um „den Sieg der werktätigen Massen über das blutbefleckte räuberische Kapital [zu] festigen“20). Die Schwierigkeiten, denen die arbeitenden Massen des ehemals habsburgi­schen Staates, allen voran aber diejenigen Neu-Österreichs und Ungarns ausgesetzt waren, gingen vor allem auf die Auseinandersetzungen der neu­entstandenen bürgerlichen Nationalstaaten um die Festlegung der Grenzen und den Besitz wirtschaftlicher Machtpositionen zurück. Lenin und Swerd- low - die beiden unterzeichnen den sowjetischen Aufruf vom 3. November — fordern daher die Arbeiter, Bauern und Soldaten der bisher habsburgischen Gebiete auf, das Werk ihrer nationalen Revolution zu vollenden, indem sie „einen brüderlichen Bund der freien Völker schließen und mit vereinten Kräften die Kapitalisten besiegen...“. Dann werden, dessen sind sie sicher, „die hungernden Arbeiter Wiens Brot von den Bauern Ungarns erhalten“ und die tschechischen Arbeiter den arbeiterfeindlichen Charakter einer Burgfriedenspolitik erkennen. Denn: „Nicht im Bunde mit der eigenen natio­nalen Bourgeoisie, sondern im Bunde mit den Proletariern aller in Österreich lebenden Nationen liegt die Bürgschaft des Sieges“21). Das amerikanische Außenamt und Präsident Wilson selbst waren sich stets der Gefahr bewußt, die die Auflösung Österreich-Ungams für die gesell­schaftliche Ordnung des Donauraumes mit sich brachte, und nicht zuletzt deshalb hatte Wilson lange mit der vorbehaltlosen Anerkennung des Auflö­sungsprozesses gezögert22). Die Monarchie war zerfallen, und die Entstehung der Nationalstaaten, sosehr sie vom Standpunkt der politischen Selbstbe­stimmung ihrer Nationen zu begrüßen war, vollzog sich in Formen, die zu den größten Befürchtungen Anlaß gaben. Es lag nun an den Vereinigten Staaten und an ihren Verbündeten, die Auswüchse nationalistischer Politik auf ein Maß zurückzuführen, das die Aufrechterhaltung des gesellschaftli­chen Systems gewährleistete. Einmal bereits, nach der russischen Oktoberre­volution, hatte Wilson in einem propagandistischen Kopf-an-Kopf-Rennen mit Lenin die Nationen der habsburgischen Monarchie auf seine politischen Prinzipien, die bekannten 14 Punkte festgelegt23). Er mußte nun, unter den geänderten Umständen des gänzlichen Zerfalls der Monarchie, die Nationen des ehemals habsburgischen Staates erneut auf seine politische Philosophie 19) Telegramm von 1918 November 2: FR 1918 Suppi. 1 446. 20) Zitiert in Österreich im Jahre 1918. Berichte und Dokumente. Eingeleitet und herausgegeben von Rudolf Neck (Wien 1968) 102. 21) Ebenda. 22) Victor S. Mamatey The United States and East Central Europe, 1914-1918. A Study in Wilsonian Diplomacy and Propaganda (Princeton N. J. 1957) passim. 23) Paul Kluke Selbstbestimmung. Vom Weg einer Idee durch die Geschichte (Göttingen 1963) 66-75.

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