Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 30. (1977)

LILLA, Joachim: Innen- und außenpolitische Aspekte der austropolnischen Lösung 1914–1916

244 Joachim Lilla ein, vielmehr bekräftigt er seine Forderung nach Eingliederung Polens in die Monarchie 69). Er betrachtet den polnischen Pufferstaat „geradezu als eine Gefahr, eine Quelle sicher vorauszusehender Komplikationen, kurz als eine Situation, die der Herr Reichskanzler ihm nicht zumuten möge, auf sich zu nehmen“. Ein polnischer Pufferstaat „würde aus Ga­lizien eine ingouvernable Provinz Oesterreichs machen, in ihr einen hef­tigen Irredentismus entfachen und schließlich deren Verlust vorbereiten“. Hingegen garantieren ein österreichisches Polen und ein deutsch verwal­tetes Baltikum einen ausreichenden Schutz der deutschen und öster­reichisch-ungarischen Grenzen gegenüber Rußland. Dies weist Jagow zu­rück 70). Für ihn liegt das Kriegsziel Österreich-Ungarns im Süden— also Serbien und Montenegro — und das des Deutschen Reiches im Nordosten — Kurland, Litauen. Polen habe als „res neutrius“ einen Pufferstaat zu bilden. Zur Brechung von Buriáns Widerstand erwägt Jagow zeitweilig eine direkte Vorsprache des deutschen Botschafters in Wien bei Kaiser Franz Joseph I., von der Tschirschky aber abrät71): Um einen hiermit zwangsläufig verbundenen Vertrauensbruch zwischen Burián und ihm vorzubeugen, schlägt Tschirschky General Falkenhayn für diese Mission vor, „dem das Kennenlernen des Kaisers Vergnügen machen wird und der Seine Majestät bei dieser Gelegenheit auch zu den militärischen Er­folgen in Italien beglückwünschen könnte“ 72). Am 3. Juni trägt Tschirschky Burián erneut die deutsche Vorstellung in der polnischen Frage vor. Die Entgegnung Buriáns lohnt aufgrund der in ihr deutlich werdenden grundsätzlichen Position in einem längeren Auszug zitiert zu werden: „Die jetzige deutsche Auffassung stellt die Rücksicht auf die Sicherheit der Reichsgrenzen voran und erblickt in der eventuellen Annexion Polens an Öster­reich-Ungarn keine genügende Gewähr für dieselbe. Es könne doch ... einer souveränen Großmacht nicht die Erduldung solcher militärischen Kontrollmaß- regeln zugemutet werden, wie einem kleinen nur halbselbständigen Polen. Abgesehen von der für uns ganz und gar unannehmbaren These, daß öster­reichisch-ungarisches Gebiet im Osten der deutschen Grenze kein ausreichen­der Schutzwall für dieselbe wäre, spricht auch der hier zu Grunde liegende Ideengang für die Richtigkeit unserer Ablehnung eines Pufferstaates überhaupt. Deutschland muß ihn, trotz den ihm zugedachten Äußerlichkeiten der Selb­ständigkeit, als in seiner Gewalt befindlich ins Auge fassen, und daraus kann nur das von mir schon wiederholt angedeutete Dilemma entstehen, daß der Pufferstaat Polen binnen kurzem von Deutschland, das dann nicht drei Mil­lionen, wie bei der als bedenklich verpönten Narew-Warthe-Grenzrektifika- tion, sondern zehn Millionen Polen bekäme, eng angegliedert oder zum Herde tiefgehender politischer Agitation werden müßte. Ganz in derselben Richtung würden auch wohl der wirtschaftliche Zwang sowie die politische Absorption [!] 69) Note der k.u.k. Botschaft Berlin, 1916 Mai 15: ebenda. to) Jagow an Tschirschky, 1916 Mai 29: ebenda. 71) Tschirschky an Jagow, 1916 Mai 31: ebenda. 72) Am 1. Juni 1916 bezeichnet Jagow in einem Schreiben an Tschirschky Falkenhayn als für diese Angelegenheit „nicht zweckmäßig“ und greift den Vorschlag nicht mehr auf: ebenda.

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