Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 30. (1977)
LILLA, Joachim: Innen- und außenpolitische Aspekte der austropolnischen Lösung 1914–1916
Austropolnische Lösung 1914—1916 243 Einbeziehung Suwalkis im Nordosten Polens nicht mehr verzichten zu können; Burián könne ja entsprechend Gegenforderungen geltend machen. Obwohl sich Burián erst nach Rücksprache auf Gegenforderungen einlassen möchte, meint er, „daß es dann tatsächlich auf eine Teilung Polens herauskommen würde, welche von den Polen perhorresziert würde“. Die deutsche Regierung hat bewußt von einer Autonomie ganz Kongreß- Polens gesprochen, „damit Österreich als derjenige Faktor erscheint, der die Abtretung eines Teiles für sich fordert und damit das Odium der ,Teilung“ zu tragen hätte“ — ein raffiniertes Kalkül, durch das Österreich nicht nur seinen Anspruch auf Polen verliert, sondern darüber hinaus in der polnischen Frage politisch desavouiert werden kann. Auf das Ergebnis der Berliner Besprechungen geht auch der Generalgouverneur von Warschau, Generaloberst von Beseler, ein67). Ein Anschluß Polens an Österreich sei unannehmbar, die Bildung eines autonomen polnischen Staates zieht Beseler „trotz ernster Bedenken jeder anderen Lösung“ vor. Eine Teilung mit Österreich wäre zu vermeiden, er empfähle im Gegenteil die Bildung eines polnischen Staates unter Einschluß Galiziens. Dennoch sei es aber unumgänglich, mit der österreichischen Regierung über die künftige Behandlung der polnischen Frage eine Einigung zu erzielen. Die von Beseler empfohlene Einigung ist der Gegenstand der weiteren Verhandlungen, in denen sowohl Deutschland wie auch Österreich-Ungarn vorläufig auf ihren Grundvorstellungen beharren. Dennoch ist die austropolnische Lösung zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu verwirklichen, obgleich die Idee in Österreich weiter entwickelt und Deutschland gegenüber zum Teil energisch vertreten wird. VII Ende April 1916 kommt es zwischen der österreichisch-ungarischen Botschaft und dem Auswärtigen Amt zu einem scharfen Notenwechsel. Erstere protestiert gegen angebliche antiösterreichische Propaganda der Reichsregierung durch Beeinflußung der öffentlichen Meinung Polens im Sinne der deutsch-polnischen Lösung. In seiner Erwiderung weist das Auswärtige Amt darauf hin, daß umgekehrt ähnliche Vorgänge bereits seit längerem bei der österreichischen Militärverwaltung in Polen festgestellt werden, ohne daß dies Anlaß zu irgendwelchen Maßnahmen gegeben hätte. Das Auswärtige Amt betont aber ausdrücklich, daß es die Verhandlungen über Polen noch nicht als abgeschlossen ansehe6S). Auf die im April seitens der deutschen Regierung von Österreich-Ungarn erbetenen Gegenforderungen bezüglich des polnischen Pufferstaates geht Burián nicht * 68 67) Beseler an Bethmann Hollweg, 1916 April 22: ebenda. 68) Noten der k.u.k. Botschaft Berlin, 1916 April 29, und des Auswärtigen Amtes, 1916 Mai 5: ebenda Bd. 2. 16*